Norbert Kron. Ein Zuhause in der Fremde. Was wir in Deutschland von der besten Schule für Einwandererer lernen können.

Ich glaube nicht, dass Diskriminierung und Ausgrenzung die richtige Antwort sind. Denn wenn man das Licht ausmacht, sind alle schwarz. Johnson Blay S.218

Norbert Kron schrieb mit „Ein Zuhause in der Fremde“ ein Buch, dass von der Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv und der Unesco-Schule in Essen handelt. Beide sind Partnerschulen und besuchten sich gegenseitig. Als die Unesco Schule in Tel Aviv ist, gibt es ein buntes Treiben und bemalte Gesichter. Aber schnell ist beiden Schulen bzw. den Schülern klar, dass sie gar nicht unterschiedlich sind. Sie freunden sich an. Alle haben ein ähnliches Schicksal. All das verbindet, schweißt zusammen. Alle sind wie Geschwister.

Norbert Kron reiste nicht nur einfach mit. Er ist mittendrin und schon zu Beginn des Buches hinterfragt er. Bedeutet Integration Assimilation? Müssen Einwanderer die Indentität des Landes annehmen oder zeichnet sich eine offene Gesellschaft gerade durch ihr multikulturelles Klima aus? Genau, das packt mich. Norbert Kron schreibt nicht einfach etwas nieder. Er ist eines der recht wenigen Autoren, die genau hinterfragen, hinsehen, nachdenken. Etwas, das ich sehr schätze, da die Oberflächlichkeit vielen Menschen leider meist mehr liegt.

Ein Gedankensprung. Ich bin in der Fremde oft mehr Zuhause als in Berlin. Aber ich genieße Urlaub, arbeite etwas, schaue mir das wahre Leben der Länder an. Nie musste ich fliehen. Das Buch begleitete mich in Deutschland, in England , Östereich und Frankreich. Nun liegt es vor mir. Ich las es mehrmals. Über Paris dämmert es gerade. Ich schaue über die Stadt, die so vielfältig ist. Viele Menschen und unterschiedliche Nationen. Die Besitzer meines Lieblingscafé`s kommen aus Israel. Sie verloren Menschen bei dem Anschlag am 13. November 2015. Die Nachbarn kommen aus Afrika. Schräg gegenüber lebt ein Professor aus Italien, der jeden Tag zur gleichen Zeit mit seinem Hund aus dem Fenster sieht und Zeitung liest. Es ist so herrlich bunt. Genau das gibt mir Heimat. All diese Menschen haben eine Geschichte. Wir alle haben das. Nur oft hören wir uns andere Geschichten nicht an. Wir schauen auf die Welt, reisen selbstverständlich in ferne Länder. Das Wort Flucht und Integration lesen wir meistens nur. Aber deren genaue Bedeutung haben wir am eigenen Leib nicht erfahren. Es geht nur durch Geschichten. Wie schaffen wir ein Zuhause für Menschen, die fliehen mussten? Oft stelle ich mir die Frage. Wenn ich weiterdenke, denke ich, dass wir uns alle diese Fragen stellen und uns Geschichten erzählen lassen sollten.

Norbert Kron hat sich viele Geschichten erzählen lassen und sie festgehalten. Da ist zuerst die von Eli Nechama, der Schauspieler war und nun Schulleiter der Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv ist. Er tut dies voller Leidenschaft und ganzem Herzen. Als Schulleiter ist er beliebt. Vor dem Beginn des Unterrichts wird er umarmt, zahlreich schüttelt man ihm die Hände. Alle lachen. Etwas, das in Deutschland nicht geschieht. Der Schulleiter ist meist in seinem Büro hinter einer Tür, die nur ungern geöffnet wird.

Berhe Gonetse geht auf die Schule, die weltweit ein Vorbild für Integration ist. Er hat eine Entführung erlebt. Norbert Kron spricht auch über die Schattenseiten. Schonungslos wird über die brachiale Gewalt beim Menschenhandel gesprochen oder über Traumata der Kinder. Aussprechen anstatt zu verschleiern. Die Wahrheit ist jedem zumutbar.

Johnson Blay ist auch ein Schüler so einer besonderen Schule. Er hat seine Familie schon vor Ewigkeiten verloren. Er weiß nicht, wo er sich so richtig Zuhause fühlen soll. Einen Pass hat er nicht. Aber er erinnert sich noch an die Schreie der Mutter als sie getötet wurde. Er ist 3 Jahre als er mit seinen älteren Brüdern Richtung Ghana flieht. Er wird während der Reisen zu einem Redner, der berührt.

Michelle Combi steht kurz vor ihrem Abitur. Sie hatte Angst um ihren Vater, der verhaftet wurde. Die Eltern, sind geschieden. Heute ist ihr davon nichts mehr anzumerken.

Es gibt noch weitere Geschichten und jede zeigt, dass Menschlichkeit zu Zufriedenheit oder etwas Glück führen kann.

In der Bialik-Rogozin-Schule ist alles anders. Die Lehrer7innen werden zu Freunden und haben Spaß an der Arbeit, setzen sich ein. Die Hauptfächer werden zur Nebensache . Kunst, Musik, das Reden, das gemeinsame Lachen, schaffen mehr Verbundenheit. Mehr Verbundenheit in der es egal ist, welche Hautfarbe oder Nationalität jemand hat. Ein Schule kann eben mehr sein als nur stupider Unterricht.

Noch ein Gedankensprung. Zeit ist vergangen und endlich bin ich einmal in Tel Aviv. Ich spüre, wie in dem Buch Herzlichkeit. Herzlichkeit und man fühlt sich so willkommen. Etwas das in Berlin, Deutschland oft fehlt. Ein schönes Land. Mir kommt es hier offener und freier vor als in Berlin. Mich wundert es nicht, dass die beste Schule für Integration in Tel Aviv ist. Mein Apartment ist mit Blick auf das Meer. Wenn ich runter gehe, sind es nur wenige Meter zum Strand. Uns/mir fehlt es an nichts. Für mich nicht selbstverständlich. Denn ich weiß, dass die Welt auch hier in Israel Schatten hat. Auch diese Reise ist nicht nur dazu da, um zu tanzen, tauchen zu gehen, Urlaub zu machen. Ich will auch durch das Buch alles sehen. Nicht nur die heile Welt. Die heile Welt- Schon gegen Morgen sammeln sich Champagnerschlürfer am Strand vor dem Hotel auf den Sitzgelegenheiten. Sie trinken, obwohl es widerlich schmeckt. Die Champagnerschlürfer lassen den Champagner die Kehle runter laufen ohne vor Scham zu erbrechen. Sie bewegen sich nicht viel raus. Die Wahrheit wollen sie nicht sehen. Eine Flasche Champagner bzw. das Geld dafür würde ein armes Kind und seine Familie länger helfen. Für mich ist das in Wolken leben, obwohl der Boden da ist. Leben und Tel Aviv ist viel mehr als das.

Reichtum muss man nicht zeigen, sondern damit Gutes tun. Eines meiner Grundsätze. Tel Aviv ist wundervoll. Aber es gibt wie überall Schattenseiten. In Tel Aviv-Jaffa leben Menschen auf der Straße. Auch in dem Buch „Ein Zuhause in der Fremde von Norbert Kron wird dies geschildert. Die Armut ist wesentlich höher als in Deutschland. Diese Menschen leben am Rand. Jeder Fünfte ist arm. Viele Menschen liegen irgendwo, betteln. Schon in Flüchtlingsheimen in Berlin sieht man das Leid der Menschen. Flüchtlinge haben es in Israel sehr schwer und leben meist noch viel unwürdiger als hier. Umso wichtiger ist eine Schule wie die von Eli Nechama, die alle gleich und menschenwürdig und achtsam behandelt. Die Anzahl der Kinder, die in Israel Not erleiden, liegt bei 32 Prozent. Israel gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Die Kinder haben wenig und ihre Blicke sind traurig, obwohl sie lachen. Ich sehe in Israel Kinder, die nichts haben. Sie tragen Fetzen. Man kann manche Behausungen nicht einmal als Hütte bezeichnen. Manche Gebäude sind zwar Häuser, aber sie sind zerfallen. Kinder spielen mit einer alten Dose Fussball. Der Sand ist trocken und manche Lippen, sind aufgesprungen. Hier genau hier ist das echte Leben. Sie lachen trotzdem und sind fröhlich. Für sie ist die Armut selbstverständlich, sie sind mit wenig zufrieden, während für andere Menschen (nicht alle) das Leben in Reichtum selbstverständlich ist und sie nie genug bekommen. Absolut konträr. 

Ich stelle mir die Frage, ob diese spielenden Kinder jemals zur Schule gehen und bin daher noch mehr erleichtert, dass es Menschen, wie Eli Nechama gibt, die diesen Kindern etwas geben, was jeder benötigt. Die Schule wird ein Zuhause und schafft Sicherheit. Sicherheit, die sie draußen, in Armut mit einem wackelnden Dach nicht haben. Die Schule ist ein Ausgleich, wird zu einer Familie, die gewiss zahlreiche Kinder und Erwachsene durchatmen lässt. 1300 Schüler besuchen die Bialik-Rogozin-Schule. Um 7.30 Uhr wird sie geöffnet und bis 19.30 Uhr dürfen die Kinder bleiben, erhalten etwas zu essen. Eli Nechama und die Lehrer/innen der Schule, sind Held/innen. Ich habe das Glück Eli Nechama bei einer Veranstaltung zu sehen. Er erzählt und erzählt und irgendwie möchte man nicht, dass er aufhört. Er ist ein Geschichtenerzähler mit einem Herzen, das randvoll mit Wärme ist. Es ist so wundervoll einmal den Autor mit seinem Protagonisten zu sehen. Norbert Kron und Eli Nechama auch hier

Ich bin jede Nacht so erschöpft, dass ich in Ruhestand gehen will, und verliebe mich jeden Morgen von Neuem in die Schule. S.41

Es geht darum >>aufgeschlossen zu sein und sich anständig zu verhalten. Mit einem Wort: Es geht darum, ein Mensch zu sein. Das ist ein Wort, das wir zuhause immer gehört haben: Sei ein Mensch! Es spielt keine Rolle, was Du bist oder tust : Hab Würde und Respekt! Sei höflich und denk nicht immer an dich selbst, Te hié ben´adam: Sei ein Mensch. Eli Nechama S.44

Trotz diverser Schicksale gibt dieses Buch Hoffnung, schafft Beruhigung, weil es Möglichkeiten gibt Menschen glücklich zu machen. Nicht nur auf den vielen Bildern in dem Buch, sondern auch durch die Zeilen, ist es als würde man Kinderlachen hören. Norbert Kron schrieb nicht nur die Ereignisse und Geschichten vieler auf. Was jede Seite noch zusätzlich besonders macht, ist das er mit einer unglaublichen Leidenschaft, Empathie, Wortkraft, Verständnis, aber auch Schonlosigkeit schreibt. Nichts ist beim Schreiben wertvoller als jene 5 Sachen.

Das Buch und die Bialik-Rogozin-Schule schaffen Hoffnung, das Vorurteile gegenüber Flüchtlinge beseitigt werden können und Integration möglich ist. Es bringt zum Nachdenken, kurz Anhalten und hoffentlich zum Umdenken vieler Menschen, die mit Hass, Worte über ihre Lippen laufen lassen. Möge das Buch sehr erfolgreich sein und durch unzählige Hände und lesendes Augen gehen und mehr Bewusstsein schaffen, das eine gemeinsame, bunte Welt gar nicht schwer ist. Wir müssen mit Herzlichkeit handeln, hinsehen, uns nur gegenseitig nur annehmen, tanzen, Musik machen, reden, gemeinsam spielen und ganz wichtig-Wir müssen gemeinsam lachen.

Das Buch „Ein Zuhause in der Fremde“ ist nicht nur ein Buch, das Geschichten von zwei Schulen und Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen erzählt, die fliehen mussten, helfen zu integrieren oder ein Zuhause für andere schaffen. Es ist auch ein Buch, dass durch die Geschichten, Ideen und das Hinterfragen von Norbert Kron eine gute Auseinandersetzung mit der Thematik Integration an Schulen und was möglich ist oder auch woanders fehlt, liefert. Dies tut er ohne anzuklagen und genau das schafft Offenheit für das Buch, denke ich. Gerade auch für Lehrer/innen. Das Buch gibt Antworten und ist vor allem eines der besten und aktuellsten Beispiele dafür, das Integration machbar ist und eben keine Assimilation bedeutet. Es kann etwas ändern und lehren. Alles ist möglich, wenn wir es mit Leidenschaft, ganzem Herzen und einem Lachen tun. Multikulturell leben, sollte längst alltäglich sein.

Am Ende des Buches gibt es 12 Thesen, die zusammenfassen, was sich an deutschen Schulen ändern muss. Eigentlich sollten sind sie logisch und sollten selbstverständlich sein. Aber leider ist dies nicht so. damit sind die Thesen so passend, so nötig und ja, sie alle sind umsetzbar. Ich finde, sie sind keine Illusion oder eine fixe Idee, sondern Antworten auf all die Fragen guter Integrationen und sollten längst zum Lehrplan in Deutschland und der Welt gehören.

Für mich persönlich ist dieses Buch pures Herzlachen mit gelegentlichen Freudensprüngen. Ich bin mit jeder Zeile mitgereist und spürte die Freude, die Warmherzigkeit, die Nachdenklichkeit. Norbert Kron schaffte ein Buch voller Menschlichkeit, Hoffnung, Verbundenheit und Möglichkeiten eines gemeinsamen Lebens, das bunt und fröhlich ist. Möge es viel bewegen. Aber am meisten spürte ich beim Lesen des Buches „Ein Zuhause in der Fremde“, dass es keine Unterschiede gibt. Wir alle können gemeinsam lachen, weinen, gemeinsam tanzen. Die Fremde kann wirklich ein Zuhause werden oder sein. Es muss dennoch viel geschehen. Aber wir müssen auch wissen: Nur wir selbst schaffen Unterschiede in einer Welt, die schon immer gemeinsam funktionierte und schon immer bunt war.

Die 12 Thesen:

1. Eine Schule für Einwandererkinder muss mehr als eine Schule sein: ein echtes Zuhause in der Fremde.

2. Jedes Kind besitzt eine individuelle Exzellenz, deren Förderung genauso wichtig ist wie der Schulabschluss.

3. Kulturelle und musische Unterrichtselemente wie Tanz, Show, Musik – aber auch Sport – helfen bei der Integration mehr als klassischer Unterricht.

4. Die Schule muss den Kindern klare Regeln vermitteln, die die Grundwerte und Verhaltensstandards der deutschen Gesellschaft widerspiegeln.

5. Alle Schüler müssen in fortgeschrittenem Alter eine Holocaust-Gedenkstätte besuchen.

6. Die Lehrer müssen Einwandererkindern eine stärkere emotionale Identifikation mit Deutschland ermöglichen.

7. Auch die Eltern sollen an den Schulen Sprach- und Wertebildungsangebote erhalten.

8. Die Lehrer sollen den Kindern die kulturellen Wurzeln ihrer Herkunftsländer vermitteln und selbst Grundkenntnisse ihrer Sprachen erwerben.

9. Ehrenamtliche Helfer und private Geldgeber müssen viel stärker in die Arbeit der Schulen mit einbezogen werden.

10. Die Heterogenität der Schülerklientel, die von Seiten der Politik garantiert werden muss, ist das A und O für Integrationsarbeit.

11. Schulen sollen sich mit den Leistungen ihrer Einwandererkinder viel selbstbewusster in der Öffentlichkeit zeigen.

12. Hinter allem steht das Prinzip: „Sei ein Mensch. Ein Mensch zu sein ist wichtiger als Mathematik.“ (Eli Nechama)

 

Norbert Kron | Ein Zuhause in der Fremde | Was wir in Deutschland von der besten Schule für Einwanderer lernen können | Gütersloher Verlagshaus | 27.03.2017 | ISBN: 978-3-579-08673-6 | 19.99 €

Friedemann Karig.Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie.

Eine Beziehung nach der gesellschaftlichen Norm leben, geht für mich nicht. Doch Vorsicht viele sagen, sie sind offen, wollen ausleben und ganz schnell befindet man sich in einem eheähnlichem Zustand, kein Sex, kein Ausleben, kein Begehren, Lügen, verletzten. Streit kommt noch hinzu. Das geschieht leider. Denn polyamourös leben, ist nicht so einfach. Manche handeln auch aus schlechten Erfahrungen dauerhaft negativ. So bekommt die Offenheit erst gar keine Chance. Psychologisch ein kleiner Alptraum. Doch auch hier gilt: Jede Seite macht Fehler. Schlimm, wenn eine Seite oder gar beide nicht schaffen absolut ehrlich zu sein. Aber das ist nötig. Manchmal wird dann noch gedacht man habe sich verliebt. Dabei ist es einfach vorbei. Die Gefühle sind fort. Die fehlende Ehrlichkeit und das Vertrauen töten alles und tun weh. Es ist traurig, wenn es so endet. Man hätte ja wirklich Spaß haben können. Doch so ist es nun mal. Aber alles ist möglich. Positiv denken längst winkt eine neue Affäre oder mehr und damit mehr Achtung, Respekt und vieles mehr. Aber geht das überhaupt so offen zu leben? Ja, absolut. 

Wo bleibt die Liebe wird dann häufig gefragt? Ganz einfach bei dem oder der, die Freiheit, Ehrlichkeit und Warmherzigkeit, Abwechslung, keine Kälte gibt und die/den man schon länger als nur ein paar Monate kennt. Daher liebe ich das Buch von Friedemann Karig. Es sagt genau das und noch so viel mehr. Polygamie basiert auf Vertrauen.

Dabei geht es überhaupt nicht darum durch Betten zu hüpfen, was viele leider in Vorurteilen denken, sondern sich und andere frei lassen. Manchmal gibt es dann sogar mehr Treue, Vertrauen, gute Gespräche und natürlich auch guten Sex mit dem Partner.

Ich liebe Literatur zum Thema Polyamourie. Michael Nast mit „Generation beziehungsunfähig“ war ein Sachbuchalptraum. Der Autor lästerte über andere und stellte sich selbst gut da. Zusätzlich ist das Buch, wer genau liest, verachtend gegenüber Frauen.

Ganz anders nun das Buch von Friedemann Karig. „Wie wir Leben. Vom Ende der Monogamie. Schon am Anfang eine Kurzgeschichte. Sie trifft auf ihn und sie verbringen eine heiße Nacht. Anstatt sie zu vergessen, sucht er sie. Sie bekommen ein Kind, leben aber in einer offenen Beziehung.

Die Monogamie ist ein Desaster“ S.11

Fast jede zweite Ehe wird in Deutschland geschieden. Eine durchschnittliche Beziehung dauert im Schnitt 4 Jahre. Gründe sind meistens Affären, ein monogamer Alltag, Lügen, , betrügen, verletzen, verlassen. Die Hälfte der Menschen sieht ihre sexuellen Wünsche nicht erfüllt. Die Monogamie ist also ein trauriges Spiel, dass zu viele mitspielen.

Doch was ist genau die Lösung? Darüber macht sich Karig wirklich Gedanken. „Wilde Ehe“, „Freie Liebe“, sind längst keine Begriffe und nahezu unschön, unpassend.

Freiheit ist also eine Lösung, aber auch diese hat Tücken verlangen wir uns doch sehr viel ab und unseren Partnern auch. Das Schlimme an der Freiheit ist, dass wir sie kaum so ausleben, wie wir es sollten. Und dann halte ich bei einem Satz Inne.

Vielleicht ist es also Zeit, neu darüber zu denken. „Mehr Freiheit, weniger Angst zu wagen?“ S.12

Genau das ist es. Einfach poly leben. Es wird auch Schwierigkeiten geben, wie oben beschrieben, aber es kann auch wunderbar sein. Etwas unterdrücken ist selten gut. Nichts muss immer gleich eine Definition haben. Es ist oder kann dennoch Liebe sein. Vielleicht sogar eine größere, längere, Erfülltere, Lustvollere.

Dann folgen Geschichten. Denn nichts erzählt die Wahrheit besser als das Erlebte.

Paul und Jelena treffen sich, er sucht sie und sie haben einen tollen Sommer. Doch Jelena fängt etwas mit einem Fitnesstrainer und DJ an. Beide weinen, als sie es Paul erzählt. Aber sie tun sich wieder zusammen. Genau das ist so wunderbar. Nicht das große Drama. So möchte ich leben und tue es auch gerade. Aber es geht nicht immer. Manche lügen, können nicht ausleben, was sie wollen. Das schafft Unruhe, viel Misstrauen und nimmt jegliche Leichtigkeit. Es folgen Gespräche, was man besser machen könnte. Reden und immer wieder reden. Aber ich weiß aus Erfahrung Menschen ändern sich nicht. Dennoch versuchen. Auch eine Kokosnuss muss erst mühsam aufgebrochen werde, um etwas Tolles zu bekommen. Wenn nichts geht, dann bleibt nur Beine in die Hand und weg. Vielleicht ändert sich irgendwann einmal etwas oder es war eine Erfahrung. Denn das Leben ist viel zu schön, um zu verzichten. Freiheit, Menschen, Gefühle, Sex sind nicht dazu da sie in eine zugeschlossene Schublade zu packen. Und es gibt Menschen, die können genau all das ausleben, wenn auch nur wenige.

Die Geschichten packen mich sehr. Da ist ein Paar, was ganz konservativ in einem Reihenhaus zusammenlebt und doch ab und zu etwas Besonderes mit jemand anderen auslebt. Dann gibt es in einer Geschichte Livia und Thomas, die sich lieben. Hier und da gibt es mal Knutschereien. Livia hat öfters etwas mit anderen Männer und Thomas hat die selbe Freiheit. Doch er nutzt diese nicht so. Eifersüchtig ist er nicht. Mich berührt diese Geschichte am Meisten. Denn beide sind ehrlich zueinander. Es gibt kein sich „in Gedanken das Schlimmste ausmalen“ Sie erzählen sich spätesten nach Tagen alles. Livia muss nicht alles erzählen oder nicht bis ins Detail, auch wenn es Thomas manchmal auch etwas antörnt. Er weiß, dass sie öfters zu einem Mann in die Eifel fährt (Der Wanderfreund) und sie gehen auch tatsächlich wandern. Wandern mit Bonus. Livia und Thomas bekommen ein Kind ziehen sich etwas zurück, heiraten und doch ist alles offen. Das ist Leben, das ist Freiheit ohne Angst und all das funktioniert nur mit Ehrlichkeit. Ehrlichkeit verschafft Freiheit und damit viel, viel Lockerheit. 

Egal, ob hetero-, schwul-, lesbisch-, transsexuell Polyamourie bedeutet eine moderne Liebe. Ehe und Normbeziehungen sind längst überholt. Dennoch leben und leben lassen. Aber Friedemann Karig macht mit seinem Buch deutlich, was möglich ist und es ist gar nicht so schlecht den goldenen Käfig nicht zu haben oder auszubrechen. Die gesellschaftliche Norm zu Beziehungen ist dazu da aus ihr ausbrechen.

Ich wünsche mir nach dem Lesen des Buches, dass viele Menschen es lesen. Vor allem die, die offen, polyamourös leben möchten und es doch nicht schaffen, da sie Angst haben, sich schämen. Möge es ihnen Kraft geben endlich einfach sie zu sein. Denn diese Menschen sind wundervoller als sie denken und wissen. Ich sein-macht um so Vieles glücklicher.

Es ist ein großartiges Buch, was mich bestärkt nie anders zu leben. Denn nichts ist schlimmer als ein monotoner gemeinsamer Alltag in dem das Schönste die Liebe und das Verlangen Tote sind.

Friedemann Karig | Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie | Blumenbar Verlag | ISBN: 978-3-351-05038-2 | 20 €

Norbert Kron. Paare, Paarungen

Dass ich einmal ein Hörbuch mit Überzeugung empfehlen würde, hätte ich bis vor Kurzem nicht gedacht.
Hörbücher sind für mich etwas schwierig. Es fehlt der Duft des gerade erst neu geöffneten Buches, das Rascheln der Seiten und wie die Finger gelegentlich die Ecken umspielen und den Buchrand streicheln. Hinzu kommt, dass es weniger still ist. Nebenbei Klavierklänge, andere Klassik hören, ist zu viel an Ton. Ich meide es also. Aber nun kam es einmal anders.

Norbert Kron schätze ich sehr. Und genau er brachte nun ein Hörbuch heraus, keine gedruckte Variante dazu. Seine Bücher fallen auf. Stets sind die Zeilen nahezu perfekt formuliert, nie oberflächlich, gekonnt erotisch und immer mit einer guten Portion fundiertem Wissen. Denn nichts ist schlimmer als dahin geworfene Sätze, nie in die Tiefe zu gehen, wenn doch der Grund viel mehr Schätze verbirgt, und nichts ist schlimmer als Beschreibungen und Aussagen, die sich genau betrachtet in Unwissen auflösen.

Das Cover des Hörbuches gefiel mir nicht. Dazu später etwas mehr. Aber es siegte natürlich wegen des Autors die Neugier. Ich lud das Hörbuch und stellte mir während der wenigen Sekunden vor, wie ich im Lesesessel sitze und ein neues Buch lese. Meine Freude, wieder Zeilen von Norbert Kron zu hören, war groß, aber seine neuen Zeilen zu lesen, wäre in Luftsprünge ausgegangen.

„Sag nicht, schöne Frau, du hättest immer nur deinen Mann begehrt – und du, starker Mann, willst du behaupten, du hättest dich nie nach anderen Frauen umgesehen?“

Mit dieser Frage beginnt das Hörbuch und öffnet gleich viele Türen und zahlreiche Gedanken. Fragen und Gedankenanregungen folgen. Ich dachte viel beim Hören nach und erkannte mich oft darin. Die passenden Sätze zur offenen Lebensweise.

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Das Hörbuch ist in Kapitel geteilt. Kapitel, die es in sich haben. Automatisch fliegen die Gedanken, kreisen, fallen mal zu Boden oder werden anregt, stärker, und manche Gedanken werden frei. Norbert Krons Zeilen bewegen etwas. Plötzlich wird die zwischenmenschliche Verbindung betrachtet, wie viel Freiheit ist nötig, wer benötigt mehr Raum, und gibt es Rollenmuster in der Verbindung und beim Sex? Ist Fremdgehen nötig oder doch nur die Freiheit dazu?

Die eine Geschichte „Ein Seitensprung auf Sylt“ prickelt und zeigt doch die Unsicherheit beim Fremdgehen. Es ist heimlich. Die Lust da und doch etwas hemmt. Fremdgehen ist die Flucht aus dem goldenen Käfig, die Lösung, weil Worte und Ehrlichkeit und Sex im Zusammensein nicht mehr so funktionieren. Der bittere Beigeschmack liegt gleich mit der Affaire mit im Bett. So ist es bei „Ein Seitensprung auf Sylt“.
Es geht um Niels und Kristin, die nach Sylt gefahren sind, um eine schöne, lustvolle Zeit zu haben. Doch es ist schon am Anfang etwas kompliziert. Sie gehen raus und sehen ein Brautpaar. Fast schon ein Omen, wie es auch Kristin denkt. Doch sie werden später Zeugen, wie diese Hochzeit einen verzweifelten Bräutigam auf einer Treppe sitzend und eine schwerverletzte Frau am Ende zurücklässt. Dies ändert etwas.

Nicht immer funktioniert das Abschalten oder endlose Lust. Manchmal sagt das Schicksal auch etwas anderes, wenn auch Trauriges, und es wird klarer, dass eben jener Betrug nicht nötig ist und der Weg nach Hause wieder Glück hervorrufen kann. Die Geschichte ist beeindruckend und erinnerte mich an ein Buch von Norbert Kron und an einen Film. Jeder Augenblick kann eine Spur haben, die etwas in uns und damit auch unser Umfeld ändert.

Danach folgt wieder ein Kapitel mit schon fast weisen Worten, und die Gedanken, selbst der Verstand pulsieren.

Aber was ist, wenn es mehr Freiheit gibt?

Es wäre gewiss leichter. Das liebe ich an Norbert Krons Büchern. Sie sind frei, offen und nicht stereotypisch. Die Protagonistinnen und Protagonisten leben nicht nach der gesellschaftlichen Normbeziehung. Mit mehr Freiheit gibt es das Wort Fremdgehen nicht mehr. Vielleicht regt ein offener Seitensprung auch das Liebesleben wieder an. Menschen legen sich zu oft freiwillig in eheähnlichen Ketten. Das kann sehr viel nehmen, und es ist auch wichtig, sich sexuell auszuleben, sich Wünsche zu erfüllen und sie nicht immer nur in Träumen oder heimlich bei der Selbstbefriedigung oder noch schlimmer beim Akt in der Vorstellung, im Kopfkino ablaufen zu lassen, sind meine Gedanken.

Die Kapitel des Hörbuches können also auch dazu führen, dass andere sich mehr öffnen. Ein schöne Vorstellung.

Etwas später folgt „Das Rollenspiel oder eine erotische Nacht in Cannes“ Schon der Beginn ließ mich leichter atmen. Es war irgendwie anziehend. Ich lauschte so gespannt weiter, wurde schon positiv unruhig. Eine kleine Hörsucht überfiel mich. Es geht um einen Mann, der Schauspieler ist, eine Affaire mit einer Frau hat, die aber nicht seinen Vorstellungen entspricht. Dann sieht er bei einer Begehung eines besonderen Lofts eine Frau wieder, die er schon einmal sah und aus der Vergangenheit kennt. Damals lief vieles schief, und er hakte es mit dem Gedanken ab, bei ihr versagt zu haben, sie nicht befriedigt zu haben. Doch diese Frau lädt ihn ein, und er wird überrascht. Denn guter Sex existiert, wenn Phantasien ausgelebt werden. Phantasien, die über Stellungswechsel und der Lust an unterschiedlichen Orten hinaus gehen. Es kann daran sein, die Rolle aus dem Alltag abzugeben und ein Spiel zu beginnen, das einen dominanteren Part erfordert. Für manche ist dies ein Tabuthema. Aber Lust und Befriedung sind bei jedem unterschiedlich. Unterwerfung hat unfreiwillig etwas sehr Schlimmes. Freiwillig, gerade beim Sex kann es genau alles abrunden und die Lust und damit auch den Orgasmus steigern oder nur dadurch erst möglich sein die pure Erregung zu empfinden. Es gibt zu wenig gelungene Geschichten darüber. Norbert Kron schaffte es aber auch dies einzubringen.

Diese Geschichte ist definitiv das Beste, was ich an Erotik je gehört oder gelesen habe. Eine Lieblingsgeschichte. Manchen wird sie vielleicht nicht gefallen, aber jeder hat andere Vorlieben und die sollten akzeptiert und nicht negativ kritisiert werden. Außerdem kann es für einige, die dies nicht kennen, ja auch eine Anregung für Neues beim Sex sein.

Gut erotisch schreiben zu können, ist auch ein besonderes Handwerk in der Literatur. Viele schreiben abgedroschen, billig, zu pornografisch. Oft gehen Ausdruck und ausfüllende, bildhafte Beschreibungen verloren. Der Raum für die eigene Selbstphantasie fehlt oft. Aber Norbert Kron beherrscht auch dieses Handwerk. Er schreibt niveauvoll, mit schon eindrucksvollen Kenntnissen über Frauen. Nie ist es überzogen oder schmal im Inhalt.

Was Erotik betrifft… Nun, die schönste Erotik in Worten ist die, die noch nachwirkt, lächeln lässt. Norbert Kron schreibt über das Fremdgehen, die Freiheit, das Ausleben. Rollenverteilungen zwischen Mann und Frau und gleichzeitig dazu über Lust.

Es ist sehr interessant, wie Norbert Kron, die unterschiedlichen Verbindungen zwischen Mann und Frau, die Wünsche, die Liebe und das Begehren zusammenfügen kann. Ein Gefühl bleibt nicht immer gleich. Der Sex in einer Beziehung und Ehe lässt irgendwann nach. Manchmal folgt Betrug.

Alle Themen zusammen ergeben etwas Lückenloses. Eine perfekte Mischung wie ein sehr guter afrikanischer Wein und ein schöner Mann oder Frau, die fließende Worte und einen lustvollen Abend mit sich bringen. Also genial.

Einzige kleine Kritik ist das Cover. Es gibt den Inhalt des Buches nicht wieder, da es etwas zu viel ist, zu knallig, etwas einfach. Nur der Mann mit dem Hemd und der Krawatte wirkt interessant. Rote, nicht gerade gut lackierte Fingernägel und die Hand auf der Brust an der Krawatte wirkt unfrei. Nicht sexy. Die Frau hat die Zügel in der Hand. Dabei sollte es darum gehen, auf Augenhöhe zu sein, eine Gleichberechtigung. Aber in der gemeinsamen Lust kann das anders sein. Es prickelt beim Cover nicht. Dafür aber umso mehr beim Hören.

Persönlich wäre es mir lieber gewesen, wenn der Autor selbst dies eingelesen hätte. Norbert Kron hat für mich einen deutlich besseren, schönen Stimmenklang als der Sprecher. Dennoch, diese Punkte tun dem genialen Hörbuch keinen Abbruch.

Ich weiche also etwas von meiner Hörbuchphobie ab. Die Luftsprünge gab es also trotzdem. Ein Hörbuch von Norbert Kron ist eindeutig ein großer Gewinn, und ich verzichte dann und nur dann gern einmal auf klassische Hintergrundmusik von Einaudi, Brahms oder öfters auch Vivaldi.

Das Hörbuch macht nachdenklich, es regt an, kribbelt, prickelt und macht glücklich. Ich kann es nur absolut empfehlen. Ein großer literarischer, gedankentiefer und stilvoll erotischer Genuss.

Es ist ungewohnt, dies jetzt zu schreiben, aber unbedingt downloaden und anhören. 

Zum Download: Norbert Kron. Paare, Paarungen

P:S Das Schönste in der Literatur sind die Zeilen, in denen wir uns wiedererkennen. Der Autor, der etwas schreibt, das etwas von uns hat. Etwas, das ganz tief geht und wir fast ohnmächtig werden, wenn wir Seiten lesen und alles passt. Als hätte jemand unsere Erinnerungen aufgeschrieben, ohne dass wir sie je an den Autor preisgaben und doch tut es so gut, sie zu lesen. Mir geht dies mit Haruki Murakami, Edith Sitwell, Milan Kundera so… Aber ganz besonders auch mit Norbert Kron. Hier ein weiteres Buch von ihm. Der Begleiter. Ich habe es verschlungen und was liebte ich die Protagonistin Liss. Allein dafür, wie sie war.

„Frauen gehen klüger fremd als Männer“: In der Reihe „Don’t Forget, Dance“, die ich sehr empfehlen kann, stellt Norbert Kron am Sonntag, 11.12 2016., sein erstes Hörbuch „Paare, Paarungen“ vor und diskutiert mit Ute Gliewa, die Herausgeberin der erotischen Zeitschrift „Separee“und Headhunterin Katharina Wilken über „Die Wahrheit der Geschlechterrollen in Liebe und Beruf“.

„janinebeangallery“, Torstraße 154, 10115 Berlin. Beginn 19 Uhr.

Antoine Leiris. Meinen Hass bekommt ihr nicht.

Mein Buch des Jahres 2016.

Es war ein ganz normaler Abend für Antoine Leiris am 13. November. 2015. Er brachte seinen Sohn ins Bett und las dann. Erst spät unterbrachen ihn kurze SMS. „Alles in Ordnung“…“Seid Ihr in Sicherheit?“

Es war der Moment in dem Antoine Leiris geschockt war, sich erst einmal vergewisserte, dass sie, seine große Liebe wirklich auf dem Konzert war.

Ich höre nur mein Herz, das aus meiner Brust auszubrechen versucht. Die Wörter hallen im Kopf nach wie ein nie enden wollendes Echo. Eine Sekunde, lang wie ein Jahr. Ein Jahr der Stille, da auf meinem Sofa“

Es folgen zahlreiche Anrufe doch Helené seine Frau erreichen diese Anrufe nicht mehr. Die Geschwister kommen und Worte fehlen. Sie, seine Frau ist dort in Bactaclan.

Das Fenster zur Welt ist geschlossen. Und macht Platz für die Wirklichkeit. „

Vor über einem jahr am 13. November 2015 ergriff Paris abermals der Terror. Im Konzertsaal Le Bataclan fielen zahlreiche Schüsse. Bei diesen Anschlägen verlor Antoine Leiris seine Frau und die Mutter ihres gemeinsamen Sohnes Melvil. Sie wurde im Konzertsaal mit 89 weiteren Menschen erschossen. 3 Tage suchte Antoine Leiris nach seiner Frau und gibt die Hoffnung nicht auf. Doch dann kommt der Anruf. Sie ist tot. Ab diesem Moment scheint die Welt zu zerbrechen und Antoine mit.

Mit Vorsicht bringt er seinem Sohn bei, dass seine Mutter nicht zurückkehren kann. Nie wieder. Und da gibt es diese eine Geschichte mit dem Marienkäfer, der verhext wird. Dann hässlich und böse wird. Genau diese Seiten überblätterte Helené in dem Kinderbuch aber und las nur das wundervolle Ende vor. Das Ende in dem der Marienkäfer zu seiner Mutter zurückfliegt und diese so glücklich ist. Doch dies geschieht nicht mehr. Der Tod nahm das gute Ende einer Familiengeschichte. Nur Fotos bleiben und das Eine, so Besondere hängt ab diesem Tag neben einer herausgerissenen Seite des Kinderbuches mit dem Marienkäfer.

Als Melvil und Antoine Leiris trauern, läuft ein Lied. Ein Lied aus der Musikliste, die Helené für ihren Sohn zusammenstellte. Bourvil-Berceuse á Frédéric. Es ist so wunderschön und doch so traurig.

Eine Welt bricht für die kleine Familie zusammen. Alle Pläne waren anders und nun gibt es Gänge zum Bestattungsinstitut. Alles geschieht zu zweit anstatt zu dritt. 

Die Bilder und Videos sind heute noch ganz klar in unseren Erinnerungen. Die Welt schien abermals kurz anzuhalten. Anzuhalten sogar für uns, die nicht so nah dran waren.

Ich habe einen engen Freund in Paris und sofort kam die Angst um ihn hoch. Ich rief ihn an, sendete Mails. Er meldete sich schnell. Was für eine Erleichterung.

Wir redeten und für einen Moment kam die Frage WARUM? Warum tun sie das? Terroristen und IS-Anhänger wollen Angst verbreiten und jegliche Genüsse der westlichen Welt, wie sie sagen, unterbinden. Keine Feiern, keine Musik. Es ist der Wunsch nach Finsternis, trist. Der graue Nebel über einer Landschaft ist viel schöner, aber auch das wäre zuviel. Es geht um um eine Ideologie, die alle haben sollen. Wer dies nicht hat, wird ein Opfer sein. Sätze, die häufig von IS-Anhänger fallen. Erschreckend und die Taten grausam. Aber ist Wut richtig oder doch der eingeschaltete Verstand, wie von Antoine Leiris? Ich denke eindeutig der eingeschaltete Verstand. Sicher nicht immer einfach, aber doch so wichtig.

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Wir dürfen nicht auch noch hassen, wenn es andere Menschen schon so zahlreich tun. 

Antoine Leiris schrieb einen Brief bei Facebook. Die Worte darin bewegten so sehr. „Meinen Hass bekommt ihr nicht.“, blieb in sehr vielen Köpfen der Welt hängen. Dieser Brief ist auch im Buch und ich merke, wie meine Hände fest ein Kissen greifen. Ich presse die Lippen zusammen, will nicht weinen.

Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger misstraurisch beobachte, dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere. Verloren. Der Spieler ist noch im Spiel.

Ich weiß, dass sie jeden Tag bei uns sein wird und dass wir uns in jenem Paradies der freien Seelen wiederbegegnen weden, zu dem ihr niemals Zutritt haben werdet.

Wir sind zwei, mein Sohn und ich, aber wir sind stärker als alle Armeen der Welt.

Er ist gerade mal siebzehn Monate alt; er wird seinen Nachmittagssnack essen, dann werden wir wie jeden Tag zusammen spielen, und sein ganzes Leben lang wird dieser kleine Junge euch beleidigen, weil er glücklich und frei ist. Denn nein, auch seinen Hass bekommt ihr nicht. „

Das Buch ist ebenso gefühlvoll und eben nicht von der Angst einnehmend. Ich bewundere Antoine Leiris Stärke diese Worte zu finden, seine Geschichte zu erzählen. Plötzlich wurde er ein alleinerziehender Vater und seine große Liebe verlor er an Waffen, die längst weltweit verboten werden sollten.

Ich fühlte so mit ihm und auf jeder Seite wünsche ich ihm und seinen Lieben immer die Kraft aufzustehen und etwas Sonne und ein Lachen zu finden. Es war oft hart zu lesen, wie er den Alltag mit seinem Sohn meistert. Kuscheln, essen, spielen und doch geht es ihm nicht gut, der Sohn spürt dies. Innerlich zerbricht er oft. Nicht nur einmal weinte ich über den bedruckten Seiten. Aber Antoine Leiris richtet sich nach der Zeit von Melvil und jeden Tag steht er erneut auf. Menschen aus der ganzen Welt schreiben ihm, schicken Schecks, die Leiris nie einlöste und sie bekommen Einladungen zu verreisen, auch aus der ganzen Welt. Mütter aus der Krippe kochen Suppen und geben diese jeden Tag mit. Liebe Gesten, aber Melvile ist die Suppen nicht und egal wie schön alles ist, bringt es Hélene nicht zurück.

Kein Buch in diesem Jahr bewegte mich so sehr. Es macht nachdenklich und zeigt die unglaubliche Kraft eines Mannes mit seinem Sohn, die einen so wichtigen Menschen verloren, der ihre Familie komplett machte.

Antoine Leiris schreibt so ehrlich. Alles berührt und bewegt. Das Leben geht immer weiter. Selbst, wenn ein Leben endet.

Meinen Hass bekommt ihr nicht“ ist auch ein Buch, das zeigt, dass keine Waffen auf der Welt, benötigt werden, sondern die einzigen Waffen Worte sein sollten. Sie können Kriege und Terror besiegen. Wut und Hass braucht es auch nicht. Es ist den Menschen leider nur noch nicht bewusst.

 

Antoine Leiris | Meinen Hass bekommt ihr nicht | 2016 Blanvalet /Verlagsgruppe Random House GmbH | München | ISBN: 978-3-7645-0602-5 | 12 €

 

Thomas Melle. Die Welt im Rücken.

Das ist kein Roman“, lese ich oft, wenn es um Thomas Melles Buch geht. Unnötige Aussagen. Es ist ein Buch, deren Inhalt zählt. „Über Melle wurde schon so viel geschrieben, gerade über das Buch“, sind ebenfalls Sätze, die ich oft höre. Aber es ist wichtig darüber zu schreiben. Denn psychische Erkrankungen sind immer noch gesellschaftlich schwierige Themen. Oft abgetan und unverstanden. Wer keine Krise hatte und den Sonnenschein täglich mit Kaffee zum Frühstück isst, kann es gewiss nicht besonders nachvollziehen, was es heißt seelisch in ein tiefes Loch zu fallen. Das Leben kann sich plötzlich durch ein Unglück, Kummer, schlimme Ereignisse, Traumata drastisch verändern.

Aber darüber sprechen, eben genau, wie es Thomas Melle in seinem Buch macht, ist so wahnsinnig wichtig für ein besseres Verständnis und die Empathie nicht falsch darüber zu urteilen.

Es ist bereits Wochen her, als ich in einer Lesung mit Thomas Melle sitze. Allein das Thema packt mich. Ich muss einmal den Autor sehen, dem ich so dankbar für diese Zeilen bin, obwohl ich kein Bi-polare Störung habe. Die Lesung ist sehr gut besucht und Thomas Melle sichtlich aufgeregt, aber er liest hervorragend und das anschließende Gespräch macht deutlich, was es heißt „Achterbahn“ zu fahren, wie auch Melle es in seinen Schilderungen der Krankheit beschreibt.

Thomas Melle schreibt in seinem Buch über seine bipolare Störung (auch manisch-depressiv genannt). Schon zu Beginn des Buches fühle ich, wie ehrlich und realistisch das Buch ist. Manisch-depressiv bin ich nicht. Aber den Abgrund zwei schwerer Depressionen, kenne ich. Es ist auf der Welt zu sein, aber gleichzeitig in einer Hölle aus einem immer abwärts fahrenden Fahrstuhl und keine Macht zu haben den Knopf nach oben zu drücken. Wenn die Seele schreit, ist das Leben, dem Tod sehr nah. Der Weg hinaus dauert Jahre und immer bleibt eine Spur zurück. Eine gewisse Melancholie; Vorsicht und Angst all das könnte mit der ganzen Wucht einer Depression wieder genommen werden. All das verändert. Auch dies beschreibt Melle in seinem Buch kurz und erzählt es bei der Lesung. Ein seelisches Tief und eben kein normaler Liebeskummer macht demütig, nachdenklich, wesentlich empathischer.

Unvergesslich-Der erste Satz des Buches ist der Beginn einer kompletten Leseabends-und Nacht bei mir.

Ich möchte Ihnen von einem Verlust berichten. Es geht um meine Bibliothek. Ich habe diese nicht mehr. Es gibt diese Bibliothek nicht mehr. Ich habe sie verloren.“

Nur kleine Sätze und doch machen sie den Schmerz, das Fallen, den Verlust spürbar. Melle sammelte Bücher, hatte eine gute Musiksammlung. Doch die Bibliothek fiel der manischen Phase zum Opfer und in der Depression fehlte sie Melle dann. Es ist ein auf und ab. Doch gesamt mehr ab. Eine Achterbahn, die niemand stoppen kann.

Der graue Himmel spiegelte sich matt im Lack. Im Kopf war glühender Matsch.“ S.23

Auf den folgenden Seiten beschreibt Thomas Melle genau, wie es ist, wenn die Seele schreit. Alles ist anders. Selbst die Freunde, die immer gleich sind, wirken plötzlich anders. Vertraute, aber doch so fremd. Das Gefühl unter Menschen zu sein und doch ganz allein. Die ganze Welt ändert sich.

Die ganze Welt ist plötzlich anders strukturiert als bisher angenommen. Die Prinzipien und Gesetze sind noch nicht durchschaut, aber schmerzlich spürbar.“ S.24

Ab dieser Seite nimmt uns Thomas Melle auf eine Reise mit, die nicht wie die Üblichen ist. Keine tolle Landschaft und kein Lachen auf bunten Wiesen. Keine unglaubhaften immer glücklichen Menschen. Das Buch lesen, heißt tiefer und weit über den Tellerrand einer menschlichen Seele zu blicken. So viel tiefer in einen Gemütszustand, der in eine kreative Hysterie fällt und dann in Dunkelheit ertrinkt, sich aber immer nach dem Licht sehnt und dahin kämpft.

Es ist schwer zu lesen, wie Melle sich verliert und den Boden noch dazu. Alles in seinem Leben läuft in dieser Zeit geplant ab, Wie ein Roboter auf dem Fließband. Melle schreibt weiter und entwickelt dabei schon eine Euphorie. Hysterisch will er seine Zeilen schreiben. In der manischen Phase entwickeln Betroffene eine unglaubliche Kraft für bestimmte Dinge, sind kreativ. Doch dies in einem erhöhten Maß. Dies ist für Mitmenschen schwierig. Trotz seines Schattens geht Melle weiter seinen Weg. Selbst als es seelisch immer schlechter wird. Er sitzt vorm TV, geht raus, geht auf Partys. Bier ist ein guter Begleiter für ihn. Alles beginnt mit Gefühlen, die wir alle haben nur all dies mal 10 oder 25 fach stärker. Es ist nicht intensiv, sondern unerträglich und damit schmerzlich. Es ist jener Schmerz für den Melle Worte findet. Jener Zustand, der für viele ein Tabu ist und doch überall ist. Vor dem Fall kommt die Ruhe vor dem Sturm, wie es beschrieben wird. Vor sich hin vegetieren, kaum etwas tun, weil es eigentlich auch nicht geht.

Doch damit nicht genug in dem tiefen Loch kann noch eine Falltür sein und diese öffnet sich und man liegt in Krankenhauslaken auf der Psychiateie, weil nichts mehr geht. Melles Freunde bringen ihn dort hin. Automatisch, denke ich daran, wie dies war und danach, wenn die ganze Welt wieder auf einen zu fallen scheint.

Thomas Melle ist es gelungen unglaublich wortgewandt, poetisch, schonungslos über ein sehr schwieriges Thema zu schreiben. In dem Buch von Mehle wird offen über alles gesprochen. Über Hochphasen ebenso über den tiefen Fall und das Absetzen von Tabletten. All die Gedankt und Erfahrung der Erkrankung werden detailreich geschildert. 

Was körperlich nicht sichtbar ist, ist schwer nachvollziehbar. Der Körper ist ja gesund Aber dies stimmt nicht ganz. Viele Menschen sehen dies so. Doch ist es zu oberflächlich betrachtet. Wenn die Psyche erkrankt, ist alles krank. Ausnahmslos jeder Zentimeter des Körpers. Ein gebrochenes Bein schmerzt so viel weniger. Hinzu kommt, dass der Schmerzt so groß ist, dass kaum etwas anderes spürbar ist. Man fühlt sich nicht. Sogar Selbstmordgedanken können hinzukommen. Auch darüber berichtet Melle.

Mehr möchte ich zu dem Inhalt nicht sagen. Aber das dieses Buch eines der wichtigsten Bücher des Jahres ist und es jeder lesen sollte. Definitiv ist es richtig, dass dieses Buch für den deutschen Buchpreis nominiert wurde. Es ist hohe Literatur über die Psyche einen Mannes, der immer weiter-geht.

Der nicht sichtbare Schmerz ist der Größte. Ein Mensch der psychisch erkrankt ist, ist immer noch ein Mensch. Nur seine Seele hat beschlossen nicht nur den Sonnenschein aufzunehmen. Neben dem morgendlichen Kaffee liegt immer etwas Melancholie und das viele Dinge nicht leicht wegzupacken sind.

Könnte man Seelenschmerz in Pakete packen und wegschicken. Die Welt wäre eine Post. © S.H.

Jeder kann Schicksalsschläge haben und damit eine Krise erleben. Der Grat zwischen Glück und einer Krise ist ein sehr schmaler.

Am Ende der Lesung mit Thomas Melle lasse ich mir mein Buch signieren und bedanke mich bei ihm für das Buch. Er ist gerührt und ich weiter so dankbar. Wir müssen auch über das schwer Vorstellbare reden. Damit es gesellschaftlich anerkannt ist und Vorurteile keinen Raum bekommen.

 

Danke, herzlich an Thomas Melle für jedes Wort und jede Zeile.

 

Thomas Melle | Die Welt im Rücken | Berlin 26. August 2016 | Rowohlt Berlin | 352 Seiten | 19.95 €

 

Kurzinterview mit Pierre Jarawan.

Irgendwie beschäftigt mich das Buch von Pierre Jarawan „Am Ende blieben die Zedern“ sehr-Im positiven Sinne natürlich. Daher war es eine Herzensfreude, dass Pierre Jarawan mir ein paar Fragen beantwortete. Zuerst noch ein paar Zeilen zum Buch…

…Jede Zeile ist schon am Anfang, wie ein perfekt komponiertes Klavierstück. Die Zeilen bringen mir als Leserin einen besonderen Blick. Samir, der Protagonist und Ich-Erzähler in dem Buch sieht Pusteblumenschirmchen zu, die seine Schwester verstreut. Wie sehr ich das noch liebe, obwohl ich erwachsen bin, fegt es schnell durch meine Gedanken.

Die Eltern von Samir flohen vor seiner Geburt nach Deutschland.

Samir erzählt von dem Leben in einer Wohnung, seiner Familie und seinem Vater, der alles erklärt und genau zeigt. Schnell wird deutlich, was der Ich-Erzähler und Protagonist Samir für eine tiefe Verbundenheit zu seinem Vater hat. Jede Zeile trifft wunderbar, was es bedeutet geborgen zu sein, zeigt wie wertvoll ein Vater und die Familie ist. Der Vater erklärt viel, erzählt Geschichten. Weiter geht es hier 
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Nun zum Interview.

Gedankenlabyrintherin: Du bist sehr erfolgreich, wie ist dies für Dich? Hast Du damit gerechnet?

Pierre Jarawan: Wie erfolgreich das Buch derzeit ist, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Ich habe noch keine Verkaufszahlen. Was mich aber sehr freut, ist, wie gut das Buch bei den LeserInnen ankommt. Das ist das Wichtigste für mich. 

Gedankenlabyrintherin: Es wurde so weit ich weiß, in einigen Buchläden sehr gut verkauft, taucht in den Medien auf, wird sehr gut besprochen und ist auf Plattformen, wie LovelyBooks sehr beliebt.

Nun zur nächsten Frage.

Wie schreibst Du ein Buch (In der Nacht, am Tag, still usw.) und war es eine große Umstellung zum Poetry-Slam?

Pierre Jarawan: Ich hatte für „Am Ende bleiben die Zedern“ sehr strukturierte Arbeitsabläufe. Ich habe über mehrere Monate hinweg 8-9 Stunden am Tag daran geschrieben. Während dieser Zeit hatte ich aber immer auch einen Stift und einen Block neben dem Bett liegen, denn es gab viele Nächte in denen ich hochgeschreckt bin, weil mir eine spontane Idee kam, die ich mir sofort notieren wollte. Dem voran gingen die Recherche und das Strukturieren der Geschichte. Mir war es einfach wichtig, das Schreiben möglichst am Stück geschehen zu lassen, weil der Text für mich eine sehr spezielle Atmosphäre und Stimmung transportiert, die sich am besten erzeugen ließ, indem ich mich selbst so weit und so intensiv es ging, in diesen Text hineinbegebe. 

Gedankenlabyrintherin: Hast Du ab und zu Lampenfieber?

Pierre Jarawan: Als ich mit dem Auf-der-Bühne-stehen angefangen habe, war ich so aufgeregt, dass ich vorher nichts essen und hinterher nicht einschlafen konnte. Das wurde aber mit jedem Auftritt besser. Inzwischen (Mehr als 500 Auftritte später) bin ich nicht mehr aufgeregt, habe kein Lampenfieber mehr. Die Angst-Aufregung ist einer Vorfreude-Aufregung gewichen: Ich freue mich auf Lesungen und Auftritte, stehe gerne vor Publikum und unterhalte mich gerne mit den Gästen. 

Gedankenlabyrintherin: Dein Buch bewegt, reißt mit und gibt einen Einblick in die so herzliche Gastfreundschaft vieler Menschen. War es auch eine Intention von Dir dies zu vermitteln, da gerade aktuell vorschnell, falsch über Menschen die fliehen müssen oder mussten geurteilt wird?

Pierre Jarawan: Nein, das wäre ja irgendwie auch Kalkül gewesen, und das entspricht nicht dem, was ich für mein Schreiben möchte. Zumal ich davon ausgehe, dass die Leute, die solche Vorurteile haben, mein Buch ohnehin nicht lesen würden. Ich wollte einfach den Libanon greifbar machen, und auch wenn das Land eine sehr düstere Seite hat, über die ich ja ebenfalls schreibe, sind Aspekte wie Lebensfreude, Gastfreundschaft, etc. ein fester Bestandteil libanesischer Mentalität. Ich schreibe also darüber, weil es notwendiger Teil der Geschichte ist. 

Gedankenlabyrintherin: Wenn du eine Prozentzahl nennen könntest- Wie viel von Dir selbst steckt in der Geschichte des Romans von Dir und warum?

Pierre Jaranwan: 100 Prozent. Anders geht es nicht. Wenn ich eine authentische Geschichte, mit authentischen Figuren und einer authentisch erzählten Welt erreichen möchte, dann muss ich 100 Prozent von mir einfließen lassen. Ich muss mich in jede Figur hineinversetzen, versuchen, diese Welt mit ihren Augen zu sehen, ich muss mich mitfreuen, ich muss mitleiden. Sonst berühre ich die Leser nicht. 

Ich gehe aber davon aus, dass du eigentlich wissen möchtest, wie viel Biografisches von mir in dem Buch steckt?

Gedankenlabyrintherin: Ja, da der Roman so authentisch ist. Daher die Prozentfrage.

Pierre Jarawan: Das kann ich unmöglich in Prozent beantworten. Ich habe mit Samir, dem Ich-Erzähler, nicht viel gemeinsam. Die Parallelen sind also eher emotionaler, als biografischer Natur. Er macht die Erfahrung, dass das Libanon-Bild, mit dem er aufwächst, nur die halbe Wahrheit ist, und dass es noch eine düstere Seite dieses Landes gibt. Dies zu entdecken ist ein schmerzhafter Prozess für ihn – das habe ich ähnlich so erfahren. Das ist also die eigentliche Parallele. 

Gedankenlabyrintherin: Glaubst Du, dass es generell gut ist seinen Spuren, seinen Wurzeln zu folgen und genau dahinter zu blicken? Wenn ja, warum?

Pierre Jarawan: Ich glaube, es ist wichtig, mit sich im Reinen zu sein. Ich persönlich hatte nie einen Identitätskonflikt. Ich habe das immer so gesehen: Wenn ich in Deutschland bin, bin ich hier zu Hause. Wenn ich im Libanon bin, dann bin ich dort daheim. Ich weiß aber auch, dass das nicht allen so geht, und dass viele Menschen, die zwischen „zwei Stühlen“ stehen, sich fragen, wo sie eigentlich hingehören. Für Samir ist die Suche nach seinen Wurzeln und dem Geheimnis seines Vaters überlebenswichtig. Sich über seine Wurzeln im Klaren zu sein oder klar zu werden, das halte ich auf jeden Fall für wichtig, ja. Vor allem, wenn man selbst das Gefühl hat, hin- und hergerissen zu sein.

Gedankenlabyrintherin: Die Verbundenheit zwischen Samir und seinem Vater ist wundervoll. Wunderschön mit Erinnerungen geschildert. Werden Väter vielleicht manchmal auf öffentlichen Plattformen oder in den Medien verkannt, da es oft heißt „Nur eine Mutter kann einem Kind wahre Liebe geben“?

Pierre Jarawan: Was ist denn „wahre Liebe“? Gibt es dann auch eine „unwahre“?

Gedankenlabyrintherin: Nein. In Beschreibungen in der Öffentlichkeit kommt es nur schon vor. Aber es stimmt Liebe ist wahr. Doch eine kleine Ausnahme-es sei denn sie ist gespielt.

Pierre Jarawan: Öffentliche Diskussionen sind ja meistens zugespitzt und überzeichnet. Und natürlich ist die Rolle der Mutter eine sehr bedeutende, auch wenn wir ihre Funktion und Position in der Gesellschaft betrachten, die Schwierigkeiten, die mit dem Muttersein verbunden sind, und so weiter. Mütter stehen einfach mehr im Fokus, als Väter, darum wird über sie naturgemäß mehr gesprochen. Wenn wir über Samirs Verhältnis zu seinem Vater sprechen, müssen wir immer im Hinterkopf behalten, dass arabische Gesellschaften tendenziell patriarchalischer sind, eine Fokussierung auf den Vater, speziell vonseiten des Sohnes, also gar nicht so sehr verwundert. 

Gedankenlabyrintherin: Du bist gerade auf Lesetour und viel unterwegs. Hast Du auch auf Lesungen schlechte Erfahrungen von Rassismus gemacht oder ist es durchweg friedlich und eine sehr stimmige Atmosphäre, wie in Berlin?

Pierre Jarawan: Bisher bin ich ausnahmslos offenen und interessierten Menschen bei den Lesungen begegnet. Für viele ist der Libanon ja eine große Unbekannte, über die sie kaum etwas wissen, und ich habe den Eindruck, die Besucher freuen sich darüber, während der Lesung mehr über das Land zu erfahren. Es werden viele Fragen gestellt, was zeigt, dass es offenbar ein großes Bedürfnis gibt, Zusammenhänge, die in den Medien oft undurchschaubar erscheinen, auf einer persönlichen Ebene erklärt zu bekommen. 

Gedankenlabyrintherin: In wenigen Sätzen, welche Spuren sollte „Am Ende bleiben die Zedern“hinterlassen?

Pierre Jarawan: Als Autor ist es mein Anspruch zu unterhalten. Die LeserInnen sollen sich mit dem Roman gut unterhalten fühlen. Wenn sie hinterher aber sagen: Ich habe ein tolles Buch gelesen, bei dem ich sogar das Gefühl habe, etwas Neues gelernt zu haben, dann wäre ich ziemlich begeistert. 

Gedankenlabyrintherin: Hast Du weitere Romanideen und können wir nun nach dem großartigen Einstieg auf einen neuen Roman hoffen oder uns freuen?

Pierre Jarawan: Ja, das Romanschreiben hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich auf jeden Fall sagen kann: Da wird noch mehr kommen. Es gibt auch schon eine Idee, aber es ist noch zu früh, um darüber zu sprechen.

Gedankenlabyrintherin: Wir sind schon am Ende. Vielen Dank und weiterhin viel Erfolg und Schreibkraft.

Pierre Jarawan: Danke! Dir ebenfalls viel Erfolg und alles Gute!

 

Weitere Rezensionen zu dem Buch gibt es auch bei Leserleben, Kleinbrinas Bücherblog und Masuko13

Pierre Jarawan | Am Ende bleiben die Zedern | 1. März 2016 | Berlin Verlag | 22 € | ISBN: 978-3827013026

Jan Böttcher. Y.

Gerade fehlt mir wieder etwas die Zeit für ausführliche Rezensionen. Aber nie würde ich so ein wichtiges Buch vergessen oder gar nicht erwähnen. So viel Zeit muss einfach sein.

Jan Böttchers Buch „Y“ ist wieder einmal gelungen und bedingt ein gute Auseinandersetzung einer vorhanden ungleichen Liebe und Folgen von politischen, aber auch menschlichen Konflikten, aber auch dem Kosovokrieg.

Erzähler in dem Roman ist ein Autor aus Berlin, dessen Sohn Benji, Leka einen neuen Freund kennenlernt. Doch Leka verschwindet und es beginnt eine Suche. Der Erzähler trifft dann Lekas Vater Jacob, einen Gamedesigner. Jacob blickt schließlich zurück auf eine unglückliche Liebe.

Arjeta und Jacob sind die Protagonisten neben dem Erzähler und den Kindern Benji und Leka. Sie hatten sich aus den Augen verloren, sehen sich wieder und beginnen eine Beziehung miteinander. Arjeta bekommt ein Kind von Jacob. Doch alles wird von den Konflikten im Kosovo überschattet. Auch als der Krieg ein Ende findet, bedeutet dies für beide einen Schatten. Denn Arjetas Vater möchte zurück in den Kosovo und die Familie schließt sich an. Jacob folgt Arjeta nach Pristhina. Doch es ist anders als erwartet. Er fühlt die Fremde nahezu auch körperlich. Jan Böttcher beschreibt genau und damit nachvollziehbar, ja nachfühlbar- die Zerrissenheit, aber auch die Sehnsucht wieder zurückzukehren. Die Ehrlichkeit wandert auch nicht überall und so geraten Arjeta und Jacob in Zerrissenheit. Die Familie von Arjeta versucht ein Hotel zu führen, ist Jacob nicht zu getan und er entscheidet sich für das Gehen, hinterlässt seinen Sohn Leka, bemüht sich aber.

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Sehnsucht treibt an. Sie treibt an, wenn ihr nachgehen, um die Lücken wieder zu schließen. Wir gehen ihr nach, auch wenn es bedeutet Menschen hinter sich zu lassen.

Erst später reist Leka als Teenager illegal nach Berlin und begegnet, wie schon erwähnt Benji. Beide freunden sich an und dies führt dazu, Spuren zu suchen. Aber auch wieder dazu in den Kosovo zu reisen.

Das Buch von Jan Böttcher ist keine leichte Kost. Ich musste mich mit viel Ruhe darauf einlassen und die jeweiligen Erzählweisen, die wechseln, auf mich wirken lassen. Gelegentlich fehlt vielleicht auch ein zusätzliche Detail zu dem Kriegsgeschehen oder dem Erzähler. Ich habe auch ein wenig die poetische, so markante Sprache von Jan Böttcher vermisst. Aber es lohnt sich dennoch.

Traurig, mitreißend wird wieder einmal deutlich, welche Wunden Konflikte, Kriege, Korruptionen haben. Es entfernt Menschen, die doch so sehr lieben voneinander und bringt das Innere aus dem Gleichgewicht.

Vielleicht vermag die Geschichte etwas undurchsichtig für einige Leser und Leserinnen sein. Vielleicht ist mir auch einiges entgangen. Aber auch hier, wie gesagt, braucht es Zeit sich einzulassen und die wahre Tiefe steckt oft in der Interpretation, unseren nachfolgenden Gedanken und natürlich zwischen den Zeilen.  

Viel ist in Vergessenheit geraten. Der Kosovokrieg scheint der Vergangenheit anzugehören. Vergessen, wie Slobodan Milosevic handelte. Es wirkt als wäre vergessen, das er anfing KZ´s zu bauen und den Vertrag von Rambouillet (Friedensvertrag zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien und den Führenden der Kosovo-Albaner) nicht unterzeichnete. Die NATO wollte die serbische Armee, die unter Milosevic stand zum Rückzug aus dem Kosovo bringen und weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindern. Viele Menschen flohen zu Zeiten des Krieges, aber fast eine Million kehrte wieder zurück. Auch mit diesem Hintergrund ist das Buch zu lesen und fügt sich damit passend in das Thema. 

Jan Böttcher hat damit weitere Literatur geschaffen, die stets notwendig ist. Wir dürfen nicht vergessen-Auch den Kosovokrieg nicht. 

Das Buch ist nun geschlossen.

Y-Ein Buchstabe mehr nicht. You, dachte ich zuerst. Nun schaue ich noch einmal auf das Cover, weiß mehr. Y steht eher für ein Computerspiel und ein Level, welches einen recht großen Raum in dem Roman hat und Geld einbringt, wenn auch nicht immer fair.

Liebe hinterlässt Spuren, wie jeder Konflikt auch. Nur alles muss gegenseitig sein und auch in einem anderem Land bestehen. Liebe kann niemand für Geld eintauschen.

 

Ein sehr guter, empfehlenswerter Roman, der erst nach genauen Blicken, nach fliegenden Gedanken seine völlige Tiefe und Bedeutung entfaltet. Kein Krieg sollte vergessen werden. Jeder Krieg hinterlässt Spuren. Gut, dass Bücher diese einfangen, gar festhalten können.

Danke Jan Böttcher.

Jan Böttcher | Y | Aufbau Verlag | 12. Februar 2016 | 255 S. |  19,95 € | ISBN: 978-3351036409

 

Brüssel. Gedanken und ein Brief für die Menschlichkeit.

Nichts ist wichtiger als Menschlichkeit in Zeiten von Flucht und Terror.

Mich erreicht die Nachricht über die Anschläge in Brüssel am Morgen beim Arzt, da ein Patient aufgelöst in die Praxis kommt. Er schildert dies und alle zücken ihr Handy. Auch ich.

Wieder ein Moment, den wir nicht vergessen. Nicht vergessen, wo wir waren als der Terror wieder zuschlug.

Ich sehe die Bilder, erst vom Flughafen, ( Link hier) dann folgen weitere von Brüssel und ich empfinde Trauer und das Gefühl von Machtlosigkeit in mir. Wieder hat es uns erwischt. Wieder haben wir uns irgendwie etwas sicherer gefühlt. Der Terror war nie weg, aber irgendwann gehen die Uhren etwas auf „Normal“ zurück. Doch normal gibt es wohl nicht mehr.

Ich denke an alle toten Opfer, Angehörige, die Verletzten und Menschen, die dies miterleben mussten. Aber ich denke auch an die vielen Helfer, die das Chaos beseitigen. An der Stelle ein Danke. Alles hinterlässt Spuren. Nur in diesem Fall keine guten Spuren.  Mein Mitgefühl für die Verluste, die Trauma, die der Islamische Staat angerichtet hat.

Zu meiner Erschütterung lese ich dann bei Facebook Beiträge von Beatrix Storch. Sie ist Mitglied der AFD (Alternative für Deutschland) Eine rechte Partei mit einem furchtbar, erschreckenden feindlichen Menschenbild, wie aus Zeiten des Nationalsozialismus. Freunde von mir teilten diese Beiträge, da sie auch erschüttert über ihre Unmenschlichkeit sind, wie ich.

Hier zum Nachlesen. 

Doch ich möchte nicht einfach sitzen bleiben. Nein, selbst meine Erkältung hält mich nicht ab einen Brief zu schreiben.

 

Frau Storch,

ich möchte keinen Krieg erleben und daher sind sie (ich möchte mir bewahren die Anrede in diesem Fall klein zu schreiben) und ihre Partei nicht willkommen. Die Geschichte darf sich nicht durch Ideologen/Ideologinnen wie sie wiederholen.

Ansonsten Gute Besserung, da ihnen etwas fehlt. Leider kann ihnen dadurch nicht bewusst sein, dass das was fehlt ihr Gehirn und Verstand ist.

Durch Wissen kommt der Mensch zur Menschlichkeit (Hafis)

Schade, dass sie über kein oder besser ausgedrückt falsches Wissen verfügen. Ich verabscheue Ausdrücke ebenso wie schlechte Worte, da alles ein Maß haben soll.

Frau Storch, das Maß ist voll! Sie haben es mit ihrer Partei deutlich überschritten. Für Unmenschlichkeit gibt es keine guten Worte.

Daher sind sie ein empathieloses, unreflektiertes, krankes, hirnloses, egoistisches, unruhestiftendes, kriegsförderndes, unmenschliches Wesen. Frau oder Mensch kann ich nicht sagen, da solche Zeilen von ihnen zeigen, wie menschenunwürdig sie sind. Nicht mal ein aus einem Instinkt handelndes Tier wäre so.

>>>Die IS wird immer Wege finden Terror zu verüben, dass sollte klar sein.

Sie sind in Sicherheit, schreiben sie mit einer Selbstverständlichkeit, die unfassbar ist und viele andere sind es nicht, weil sie fliehen, bedroht werden.

Ich möchte, wie viele andere auch, die gegen die AFD, gegen Rechtsextremismus, gegen Hass, gegen Menschenverachtung, gegen das Vergessen und für die Menschlichkeit eintreten in Sicherheit vor ihnen und ihrer Partei sein. 

Aber sie verstehen es ja leider doch nicht. Ihre Beiträge, Argumente zeigen, wie wenig sie wissen, was es bedeutet sich wirklich wieder sicher zu fühlen oder Sicherheit zu vermissen. Sicherheit zu vermissen, dass man alles hinter sich lässt und nur die Hoffnung hat wieder etwas Sicherheit zu haben. Einfach nur überleben will. Sie hatten heute ein ähnliches Gefühl, aber jegliches Aufwachen, jede logische Erkenntnis daraus, (Nein, ihre Erkenntnis ist nicht logisch) bleibt ihnen leider fern.

>> Die IS oder andere dschihadistische Gruppierungen werden leider immer Möglichkeiten finden den Terror auszuüben. Diese haben böse Menschen und dennoch sind nicht alle Flüchtlinge so. Menschen sind verschieden.

Ein Beispiel für sie: Wir haben auch gute Menschen so, in den Medien und in der Politik, überall, aber auch überall böse, verachtende Menschen.

Verachtende Menschen, wie sie Frau Storch.

FASSEN sie sich an ihre eigene Nase, sie und ihre Partei haben nichts anderes vor als Menschen zu vernichten, wie die IS auch. Sie handeln auch so vernichtend, manipulieren, tun Dinge aus Wut, geben andere die Schuld. Nutzen die Ängste von Mitbürgern aus. <<<

EIN FEHLENDES GEHIRN, dass nicht medizinische Gründe hat , IST KEIN LEID, WIE UM DAS LEBEN ZU KÄMPFEN, VOR KRIEG ZU FLIEHEN.

Ja, harte Worte, aber sie reichen leider nicht, um ihre wahre, fehlende Menschlichkeit Ausdruck zu verleihen.

Sie und ihre Partei brauchen Grenzen. Niemand sonst. 

 

Pierre Jarawan. Am Ende bleiben die Zedern. Die Flüchtlingsthematik in der Literatur 2.

»Alle Söhne lieben ihre Väter. Aber ich habe meinen verehrt. Weil er mich mitnahm in die Wunderwelten seiner Geschichten.«

Ich liebe den Zauber, den ein Buch haben kann ohne dass ich es schon gelesen habe. Der Titel „Am Ende bleiben die Zedern“ rief in mir unerklärbar ein Fernweh hervor, aber auch eine Nachdenklichkeit. Zu den Zedern fielen mir die großen, starken Nadelbäume ein. Ich sah auf das Buchcover und ja ein fernes Land und ein kleiner Junge der über eine Brücke läuft. Flieht er?, frage ich mich, Aktuell ist das Thema Flucht überall. Es ist wichtig darüber zu erzählen.

Mich überzeugt der Klappentext. Ich denke an Pierre Jarawan beim Poetry Slam. Unvergesslich seine Stimme und jeder Satz von ihm. Es ist schon etwas her. Aber gute Erinnerungen entflammen schnell immer wieder neu. Nun also sein Romandebüt.

Der Beginn ist tragisch und in der Stille in der meine Augen nur auf das Buch fallen, ich lese, vermischt sich etwas Schmerz und gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass mir einmal mehr, wieder das richtige Buch in die Hände fiel. 

Jede Zeile ist schon am Anfang, wie ein perfekt komponiertes Klavierstück. Die Zeilen bringen mir als Leserin einen besonderen Blick. Samir, der Protagonist und Ich-Erzähler in dem Buch sieht Pusteblumenschirmchen zu, die seine Schwester verstreut. Wie sehr ich das noch liebe, obwohl ich erwachsen bin, fegt es schnell durch meine Gedanken.

Die Eltern von Samir flohen vor seiner Geburt nach Deutschland.

Samir erzählt von dem Leben in einer Wohnung, seiner Familie und seinem Vater, der alles erklärt und genau zeigt. Schnell wird deutlich, was der Ich-Erzähler und Protagonist Samir für eine tiefe Verbundenheit zu seinem Vater hat. Jede Zeile trifft wunderbar, was es bedeutet geborgen zu sein, zeigt wie wertvoll ein Vater und die Familie ist. Der Vater erklärt viel, erzählt Geschichten.

Ich sitze in meiner Wohnung und spüre, wie Pierre Jarawan es schafft zu verzaubern. Er schreibt ausgeprägt bildhaft und oft es ist so, dass selbst die beschriebene Musik hörbar ist. Irgendwie als hätte ich es mir neben Samir in einem Sessel bequem gemacht und schaue zu, folge ihm.

Mir fällt auf, dass Samir über das Leben in Deutschland schreibt, aber es ist, als würde es ein anderes Land sein. Ja, als wäre es die Heimat von seiner Familie, dem Libanon. Es geht temperamentvoll zu. Die Menschen haben sich nach der Flucht ein kleines Stück Heimat miteinander bewahrt. Sie tanzen, lachen, drehen sich. Ein Teil Glück, das geblieben ist. Samir und seine Familie sind in Deutschland aber nichts deutet darauf hin. So schreibt es auch wenig später Pierre Jarawan in einer Zeile.

Dann überall gutes Essen, Weinblätter, Oliven, Fladenbrot und Gewürze. Diesmal ist es, als seien die Düfte in meinen Räumen. Jede Zeile Jarawans ist ein Genuss und die Reise in ein Land, das Märchen füllte. Er schafft es Stimmungen, ebenso wie Gefühle und Länder mit Worten zu erfassen, dass es sogar ein bisschen unfassbar ist.

Irgendwie scheint für Samir und dessen Familie eine neue Heimat gefunden zu sein. Der Vater dreht sich, wie ein Satellit beim Feiern um die Gäste. Eine tolle Momentaufnahme, die trotzdem etwas Ruheloses hat. 

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Samirs Vater ändert sich nachdem Bilder aus der Heimat gesehen wurden und was im Libanon geschieht. Der Vater geht darin auf über den Libanon/Beirut zu sprechen. Ich erfahre, dass das Land, das einzige arabische Land ohne Wüste ist. Aus den Erzählungen des Vaters ergibt sich oft Wissen, welches ich zu vor nicht so genau hatte oder an eine sehr entfernte Stelle, der Erinnerungen gelegt habe. Beim dem gemeinsamen Anschauen der Diabildern nimmt der Vater ein Bild und es wirkt, als habe er dies aus Versehen getan. Darauf ist ein Mann mit einer Zeder von einem rotem Kreis umschlossen, die auf einer Uniform ist. Der Vater ist auch in der gleichen Uniform daneben und strahlt. Beide Männer sind bewaffnet.

Für Samir ist dies unverständlich. Denn er ist zu jung. Aber Fragen, die er nicht stellt, weil sie vielleicht auch noch nicht deutlich genug sind, hat er in seinen Gedanken. Samir belauscht dann seine Eltern, die im Schlafzimmer leise, aber für ihn deutlich, sprechen. Es geht um jenes Bild und das die Mutter den Vater darum bittet, es nach vielen Jahren zu vernichten. Sie könnten tot sein, wenn es gefunden worden wäre. Samir lauscht den Worten, schleicht in das Wohnzimmer und nimmt das Dia an sich. Zu dem Zeitpunkt weiß er nicht, dass ihn dieses Bild und ein Moment danach noch sehr lange verfolgen werden.

Die Beschreibungen der Gedanken von Samir und wie er die Veränderungen des Vaters geradezu analysiert, prägen sich ein. Jedes Detail der Veränderung scheint er zu merken. Nur seinem Vater ist dies erst nicht klar. In den Augen des Vaters liegt eine Sehnsucht. Durch die Erläuterungen Samirs wird deutlich, das Heimat eben nicht eine erst ähnlich geschaffene Umgebung ist. Heimat ist für Samirs Vater keine Umgebung bei der Gäste nicht überall, wie Könige behandelt werden und bei der sich hinter dem Tanz, dem guten Essen, den Freundschaften eine ganz andere, alltägliche Welt verbirgt. 

 

Der Vater verschwindet dann ohne eine Spur. Dies geschieht als Samir 8 Jahre alt ist. Erst 20 Jahre später reist Samir in den Libanon und begibt sich auf eine Suche von Anhaltspunkten und nach seinen Wurzeln.

Das Buch hat mit der Erzählung von Samir immer wieder Rückblicke. Samir ist ein Teenager, der viel und sich ausprobiert, eigentlich normal, aber immer wieder den Verlust seines Vaters fühlt. Hinzu kommen andere Schicksalsschläge, die ihn verändern und prägen.

Jene Rückblicke ergeben ein Ganzes. Mich erinnert dies ein wenig an einen guten Krimi. Die Lösung ist eigentlich da und doch können Teile mal einen Zweifel hervorbringen. Definitiv ist das richtige-ein sehr gutes Buch in meine Hände gefallen.

Es ist spannend und mal wieder ein Buch, wie eine Reise. Eine Lesereise, die mich neben dem Fernweh mehr nachdenken lässt, als sonst. Was bedeutet Heimat? Können wir je ankommen, wenn unser Herz ganz woanders lauter und stärker schlägt? Müssen wir nicht doch irgendwann gehen, weil wir eine Überzeugung und die Sehnsucht nach unser echten Heimat stillen müssen?

Fragen, die nur jeder für sich selbst beantworten kann und vielleicht gehe ich doch eine Tages nach England, denke ich beim Lesen.

Heimat und das Gefühl von Sicherheit kann aber auch ein Mensch geben. Selbst, wenn man die Einsamkeit liebt. Es sind die Zeilen über Samirs Vater und deren Verbundenheit, die mich fesseln, mitfühlen, mal leiden, dann mal wieder lachen lassen. Automatisch denke ich an meinem Vater, der mir unendlich viel bedeutet.

Die Reise in den Libanon und die damit verbundene Suche nach seinem Vater ändert bei Samir viel.

Der Libanon ist anders als Deutschland, doch wie ich lese mit so vielen tollen Seiten, Landschaften und auch Lebensfreude. Vielleicht müssen wir genauer hinsehen, um dies zu erkennen. Denn manchmal sind wir selbst ganz woanders Zuhause. Länder haben trotz Unruhen ihre Schönheit und die guten Menschen nicht verloren.

Wir lieben nicht nur Menschen, sondern auch Länder.

Das Buch erzählt aber auch von der Politik und den Machenschaften des Libanons. Dies sind die Schattenseiten und sie sind sehr dunkel, erschreckend, tragisch. Der Bürgerkrieg tobt und ich konzentriere mich zusätzlich darauf, lese sogar ein-zweimal etwas nach. Die Menschen haben normale Wünsche nach einem guten Leben mit der Familie und doch werden sie von Konflikten bedroht, die auch sie verändern. Manchmal bin ich hin-und hergerissen zwischen verstehen und dem Gedanken, dass ich froh bin vieles nicht zu kennen, Krieg nicht erlebt zu haben und dass es so bleiben möge.

Für Samir ist die Reise in den Libanon anders als erwartet, es geschieht etwas, das er nicht ahnt. Am Ende löst sich auf, warum der Vater verschwunden ist. 

Pierre Jarawan hat mit „Am Ende bleiben die Zedern“ ein Buch mit einer unvergesslichen poetischen, einprägenden, bildhaften, ausdrucksstarken Sprache geschrieben, dass es schwer ist, am Ende der Rezension, die richtigen Worte zu finden.

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Der Autor schafft es auf eine ganz besondere Art und Weise über Flucht, Heimat, Verlust, aber auch Identität, Gesellschaft, Politik und Konflikte zu sprechen.

Beeindruckend, sprachgewaltig, überzeugend, bereichernd. Es ist besser als grandios und eine Stufe höher als meisterhaft.

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Um ab und zu solche Leseschätze zu finden, lese ich viel, immer weiter, liebe es zwischen Buchseiten zu verschwinden. Literatur ist das Beste, was es gibt und Pierre Jarawan gehört mit seinem Debüt definitiv für mich zu den schönsten , bewegendsten, nachhaltigsten Büchern zur Flüchtlingsthematik, dem Ankommen und der Wichtigkeit von Heimat.

 

Pierre Jarawan | Am Ende bleiben die Zedern | 1. März 2016 | Berlin Verlag | 22 € | ISBN: 978-3827013026

No Bitch! Frauen sind wertvoll. Für mehr Feminismus.

Jedes Jahr am 14. Februar gehen viele Frauen zu One Billion Rising. Es wird gegen Gewalt an Frauen und Mädchen getanzt. Am Ende des Liedes stehen alle auf…We are Mothers, Teachers, beautiful creatures…

Genau und an der Stelle gleich, wir sind keine Schlampen oder Hündinnen. (Wikipedia) Bitch ist ein Schimpfwort (siehe Wörterbücher, bitte nicht immer nur allein der Quelle Wikipedia vertrauen)

Es ist wichtig, dass wir Frauen einfach wir sind. Nicht, wie andere es denken oder wollen. Seid ihr selbst und nehmt kein Image an, welches andere haben. 

No Bitches.

Also mal etwas nachgedacht, etwas hin und her gedacht, genauer betrachtet.

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Gegenwärtig gelten Begriffe, wie Bitch, Girlie, It-Girl leider als toll. Die englische Sprache wird im Deutschen positiv umgedreht. Die wahre Übersetzung von dem Begriff „Bitch“ ist damit schnell vergessen, nahezu unter den Teppich gekehrt. Ein Wortverbrechen, finde ich. Auf vielen Seiten wird Feminismus geschrien, der so wichtig ist und doch tauchen diese Begriffe auf. Missy Elliot singt „She´s is a bitch“ Der Inhalt des Songs nun mehr als dürftig, aber das wird nicht beachtet. Solche Begriffe sind zu modern geworden und gelten als cool. Ich lese dies und so jung ich auch noch bin, kann ich dies nicht einfach so nicht stehen lassen.

Wenn sich Frauen so definieren, dann ist in der Aufklärung und im Denken für mehr Frauenrechte/Frauengleichberechtigung eine Lücke deutlich.

Eine Bitchwahl als Lockmittel ist definitiv die falsche Richtung für Toleranz, Akzeptanz von Frauen , egal ob lesbisch, bi, hetero, trans*.

Achten einige Frauen sich noch genügend? Mangelt es an zu wenig Aufmerksamkeit? Ist das neue Cool etwas billig angehaucht? Sind selbstbezeichnete „Bitches“ wie Lady Bitch Ray der neue Anspruch? Sinkt der Anspruch so sehr, dass es für ein Kompliment wie „Du bist umwerfend klug und schön“ keine Freude für einige Frauen mehr gibt? Ist der Begriff Bitch in der lesbischen Community mehr Trend als woanders? 

Nun, ich hoffe nicht. Denn ich finde alles geht auch mit Klasse. Ich lebe offen, mag Normbeziehungen nicht, liebe beide Geschlechter, rede frei über unterschiedliche Themen, spreche ohne Hemmungen über Sex, das Blatt vor dem Mund nutze ich nicht. 

Ich arbeite frei, brauche keinen Schatten. Mir ist Feminismus wichtig und „Bitch“ ist für mich ein schlechtes Wort. Es ist kein Kompliment, weil einige Menschen glauben das Wort in Deutschland eine andere Bedeutung geben zu müssen.

Launenhaft und fast manchen Männer entgegenkommend, wirkt es. Ich möchte lieber mit Charlotte Rampling oder Hillary Clinton einen Tee trinken als mit einer Frau , die sich „Bitch“nennt.

Mich bewegt das und ich rede mit ein paar Frauen, die älter sind als ich. Was meinen sie dazu? Was wenn der Begriff wirklich ernst gemeint ist, kein Spiel?Durch Onlineplattformen und ein Handy bilden sich schnell, kurze aber effektive Dialoge. Zu meiner Erleichterung stelle ich fest, dass der Begriff doch negativ bewertet wird, auch als ich sage, dass es hier auch als positiv empfunden wird. Es bleibt negativ ist der Schlusssatz von allen. Das beruhigt mich etwas. 

Denn wir Frauen sollten uns mehr wert sein. Es kann nicht sein, dass für Frauenrechte gekämpft wird und dann werden Abstriche gemacht. Bitch oft in Pink, dann in  angeblichen coolen Sendungen. Vielsagend aber nicht vielversprechend.

Welche Frauen geben sich für so etwas her? All dies frage ich mich gerade. „Bitch“ ist umfassend zu einem Trendbegriff geworden, der nicht von Gedankentiefe ist. Frauen, gerade junge Frauen sollten eigenständig sein und nicht andere nachahmen oder sich durch so eine verachtende Idee, klein machen. Das hat niemand nötig. 

2016 also und auch an der Stelle haben wir Rückschritte gemacht, wenn vielleicht auch nicht so viele. 

Die AFD möchte das alte Frauenbild zurück und manche Frauen freuen sich über den Begriff Bitch. Das hat nichts mit Emanzipation zu tun, sondern ist eher traurig.

Das Wort „Bitch“ ist nutzlos. Es wertet das Wertvolle einer Frau ab.

Es sei denn sie wählt diese Definition selbst.

Mit solchen Begriffen können sich Frauen selbst aber auch klein machen. Dabei sollten wir aufstehen und gestandene, freie Frauen sein, die es gar nicht nötig haben sich so zu bezeichnen, weil wir einfach auch so grandios, intelligent, sexy sind!

Generell wird oft, wenn auch noch zu wenig nach Frauenrechten geschrien. Frau soll nicht als Objekt gesehen werden. Die Frau von heute ist frei und nicht billig. Sie muss nicht laut sinnlos umher schreien oder Sex als Mittel für Aufmerksamkeit nehmen. Wenn Laura Merritt das macht , ist es auch immer auf eine sehr kluge Art und Weise.

Eine gestandene Frau kommt auch weit ohne Girlie-Getue. Hier ist aber zu unterscheiden, das Sex nie ein Tabu sein sollte. Intelligent sexy ist anziehend. Dennoch gibt es Unterschiede offen damit umzugehen, frei über Vorlieben, guten Sex zu sprechen oder ein Scheidensecret an einen Moderator weiterzugeben. (Lady Bitch Ray in einer TV-Sendung) Letzteres hat für mich dann die Grenze des niveauvollen Feminismus und einer klugen Frau verloren.

Für mich sind Lady Bitch Ray und Missy Elliot keine angemessenen Beispiele den Begriff „Bitch“ schön zu reden, was wie oben geschrieben, generell nicht geht. Im Gegenteil. Dies sind keine Ikonen oder Frauen, die ein Maßstab von Feminismus und Freiheit sein sollten.

Wir Frauen sollten uns mehr wert sein als das, was zwei Frauen sagen. Dennoch ist der neue Feminismus anders, freizügiger. Laura Merritt ist eine Vertreterin des sexpositiven Feminismus und sie ist großartig. Kein Tabu was Sex betrifft. Sie redet offen, frei raus. Sie ist die Frau zu der man geht und über Sex redet und nebenbei Sexspielzeug kauft. Lady Bitch Ray überschreitet für mich manchmal das Maß, aber sie lebt aus, hat einen Style. Somit auch ein Beispiel für Frauen, die nach vorn gehen. Es ist jedem selbst überlassen, wie er/sie das findet.

Gegenwärtig gibt es auch Feministinnen, die in der Politik zugegen sind. Autorinnen, wie Lauren Penny heizen Diskussionen an. In der Regierung, auf der Bühne und Leinwand haben wir tolle Frauen, aber sie kommen auch aus, ohne mit „Bitch“ unnötig Aufmerksamkeit, auffangen zu wollen. Weniger ist was Ausdrücke betrifft, immer mehr und bei den Ansprüchen an sich, kann es gern etwas mehr sein. Dann dürfte es ein gutes Gleichgewicht geben.

Auch in der Liebe, beim Flirt, anderen schönen zwischenmenschlichen Verbindungen ist dann die Frage „Bitch“ oder eine besondere „Frau“ ohne fragwürdigen Zusatzbegriff?

Nun mal ehrlich doch lieber die Frau  ohne Zusatzbegriff. Aber jeder soll dies für sich entscheiden. Abwertend ist nur der Begriff Bitch. 

Für mich sind Ikonen jene Frauen, die in der Frauenbewegung kämpften, die mit Würde, aber auch einem gesunden Dickkopf, Durchsetzungsvermögen etwas erreichten/erreichen. 

Ich vergesse Menschen, wie Clara Zetkin, Simone de Beauvoir, Kate Sheppard nicht.

Dennoch gehe ich mit der Zeit, aber wenn „Bitch“ plötzlich als positiv gewertet wird, läuft etwas schief. Und wir reden nicht von einem sexy Wortspiel, das einmal als Spaß oder Liebesspiel angewendet wird.

Love is a bitch“ ist ein anderer Satz, der oft kursiert.

If I´m the one with a vagina,

why are you acting like such a bitch?“ , ist ein weiterer Satz.

Ja, was denn nun??

Also doch negativ. Die Umdrehung der Definition aus dem Englischen erschlägt sich somit von selbst.

Ganz klar ist „Bitch“ nicht meine Sprache und gewiss auch nicht derer, die Frauen achten und sich selbst wertschätzen können.

Frauen sind wundervoll, wertvoll, klug, sinnlich, atemberaubend, verzaubernd, stilvoll, erotisch, sexy, gepflegt, locker, warmherzig, klassisch, elegant, rockig…

Sie sind so viel mehr…aber keine Bitch.

Worte sollten nicht umgedreht werden und der Anspruch in keinem Bereich sinken. Es obliegt der Philosophie manche Begriffe in Frage zu stellen. Doch „Bitch“ hat weiter eine negative Bedeutung. Keine Frauen, wie Lady Bitch Ray, Missy können dies ändern.

Frau, sagt schon alles . Mehr braucht es nicht.

Wenn Feminismus dann richtig.

Die Leipziger Buchmesse. DIE FLÜCHTLINGSTHEMATIK IN DER LITERATUR 1 | Michael Köhlmeier. Das Mädchen mit dem Fingerhut | Abbas Khider. Ohrfeige | Norbert Kron, Amichai Shalev. Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen.

Literatur bewegt. Etwas tun auch.

Ein wichtiges Thema mit vielen Diskussionen, tollen Büchern dazu ist Flucht auf der Leipziger Buchmesse und die damit vorhanden Probleme. In den letzten zwei Jahren hat sich der Wind in eine falsche Richtung gedreht. Menschen fliehen vor Krieg und dem Wahn von Kriegsführern. Sie fliehen um zu überleben. Doch manche Menschen sind sehend blind und tragen Unverständnis sogar Hass für Flüchtlinge in sich. Sie gehen auf Straßen, brüllen ihre Wut hinaus und in der Politik bekommt eine rechte, so unmenschliche Partei zu viele Stimmen. Irgendwo lese ich „AFD wählen ist so 1933“ Dieses Bild begegnet mir auch auf der Buchmesse. Gewiss ist es so. Jene Jahre des Nationalsozialismus, des gelebten Hasses sollten wir hinter uns gelassen haben. Ich verstehe nicht, warum Rückschritte das neue Laufen sind.

Ich bin mit einem Autor, einem Herzensmenschen angereist. Er reist viel durch die ganze Welt. Schon auf der Fahrt kommt zwischen der Stille dieses Thema auf. Er schreibt, hat einige Projekte, macht Veranstaltungen dazu. Ich selbst berate über Holocaust und Rechtsextremismus, unterstütze eine Flüchtlingsorganisation, eine Galerie. Gelegentlich lade ich Autoren zu Lesungen und zu diesem Thema ein. Es macht Freude. Unzählige tun viel, packen mit an, bewegen, organisieren und doch noch reicht es nicht.

Aber in der Hilfe sind wir immer noch hilflos. Es fehlt an so vielen Ecken. Türen werden verschlossen, obwohl sie offen sein sollten.

Umso furchtbarer ist das Wissen darüber, dass Menschen dagegen handeln. Einfach aus Angst, Unwissenheit und in ihren selbsternannten Nöten sind sie achtlos, hasserfüllt geworden.

In diesem Jahr beschäftigt, begleitet mich also das Thema noch mehr. Ich trete gegen Das Vergessen und gegen Rechts, für ein buntes Deutschland ein. Dies seit Jahren. Kein Flüchtlingsstrom, kein unzureichendes Handeln der Regierung wird diese Meinung ändern. Menschlichkeit, das Nicht- Vergessen ist eine Herzenssache. Die Literatur kann all dies einfangen, festhalten beschreiben und vor allem verständlich machen.

Wie wichtig die Flüchtlingsthematik auf der Leipziger Buchmesse ist und wie groß Offenheit geschrieben wird, ist schnell zu spüren. Alles ist kunterbunt, für Toleranz wird geworben. Die unterschiedlichsten Sprachen sind zu hören, es geht harmonisch zu. Menschen aus verschieden Ländern laufen durch die Hallen und immer wider laufen verkleidete Menschen in Mangakostümen herum. Hier sitzt der Autor neben dem Superhelden und der Flüchtling endlich kurz lachend auf der Couch. Selbst in einem Meeting kommt zur Sprache, was noch auf die Schnelle vor Ort getan werden könnte. Es gibt einen Denkraum. Menschen diskutieren hier über Asyl, Flucht, Heimat und die Tragik von Vertreibung. Mal ist es still, mal geht es hoch her.

 

Viele Verlage haben Bücher dazu. Das Thema vergessen geht eigentlich nicht. Gut so. Wir müssen hinsehen, verstehen, erkennen, menschlich handeln. Was sich geändert hat, ist das Flucht wieder präsent auf Buchseite geworden ist. Generell ist das Thema nie verschwunden, aber in einer Flüchtlingskrise nun wieder mehr vorn. Neue Werke werden geschrieben. Bücher veranschaulichen durch bildhafte Sprache, was viele Menschen sich nicht vorstellen können oder aus Wissensdurst lesen wollen. 

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Auf der Buchmesse 2016 geht dies. Es müsste nur öfter so geschehen. Auch beim blauen Sofa ist das Thema Flucht von hoher Wichtigkeit. Michael Köhlmeier sitzt auf dem Sofa und redet wortgewandt über sein aktuelles Buch.

Nun dazu ein paar persönliche Buchtipps passend zur Thematik. Diese Bücher sind natürlich auch auf der Buchmesse zu finden. 

Michael Köhlmeier. Das Mädchen mit dem Fingerhut

Noch wirkt das Buch nach. Ein namenloses Mädchen, das Yiza gerufen wird. Aber eben nur gerufen, wie ich lese. Es hat einen unglaublichen Überlebenswillen, wie durch kleine Wunder helfen ihr immer wieder Menschen. Jede Zeile bewegt. Das Buch ist authentisch und Köhlmeier schreibt so, das der Hunger, die Not spürbar ist. Es gibt oft Hilfe, aber auch diese wird mal zerschlagen. Irgendwie hat das Buch eine Ruhelosigkeit, Freude und dann wieder einen bitteren Kampf. Vieles bliebt offen. Doch genau das beschreibt die Lage gerade. Wir wissen nicht wohin all dies führt. Fast erschüttert bleibe ich nach dem Lesen zurück. Die Geschichte des Mädchens schildert die ganze Not unzähliger Flüchtlinge. Es sind nur 144 Seiten, die aber wirken, wie ein gutes, dickes Buch.

Abbas Khider-Ohrfeige

Die Orangen des Präsidenten“ von Abbas Khider sind immer noch unvergesslich. Auf sein Buch „Ohrfeige“ war ich also gespannt. Zwischen Komik und Tragik beschreibt Abbas Khider die Schwere ein Flüchtling zu sein und den Ärger mit den Behörden.

Karim Mensy, ein Flüchtling aus dem Irak und der Protagonist des Buches erzählt von 3 Jahren Flucht, Ungerechtigkeit und der Verarbeitung dessen, was kaum zu verarbeiten ist. Er darf nicht in Deutschland bleiben. Karim ist wütend und fesselt eine Angestellte des Amtes Namens Frau Schulz, gibt ihr eine Ohrfeige-Sie soll ihm endlich zuhören. Dies ist ein ganz wichtiger Schlüsselsatz. Oft wird übergangen, nicht zugehört. Nicht nur die Sprache ist ein Hindernis, sondern leider oft auch der Wille. 

In den Worten und allen Zeilen von Abbas Khider steckt die einfache menschliche Sehnsucht nach Normalität. Einfach einen Kaffee trinken, reden. Doch die passende Sprache fehlt und es werden Riegel vorgeschoben diese zu erlernen. Abbas Khider schreibt wirkungsvoll und nachhaltig, wie es ist, etwas in Sicherheit und doch meilenweit von allem Alltäglichen entfernt zu sein. Es mag sicher etwas merkwürdig klingen, aber ich lese dies und verstehe die volle Wut von Karim. Irgendwann reicht es.

So schreibt auch Abbas Khider frech, bittersüß, gnaden-und-schonungslos über die Lücken des Asylrechts. Er muss schwarz arbeiten, da er offiziell nicht arbeiten darf. Er erzählt ausführlich über Politik, Unachtsamkeit, die Folgen Bushs, ebenso wie über einen Freund, der psychisch zugrunde geht, die Talente von ihm und seinen Freunden, das stetige Totschlagen der Zeit, weil sie nichts tun dürfen und das Leben in Flüchtlingsheimen, das an Konzentrationslager erinnert. Überall ist Unmenschlichkeit.

Abbas Khider nimmt kein Blatt vor dem Mund. Die Wahrheit wird jedem-Ja, wie eine Ohrfeige gegeben. Großartig und ein guter Weg blinde, aber auch Menschen, die zu still in einer Zeit von Not sitzen, endlich einmal zu bewegen. Nur ehrliche und wie ich es nenne laut-geschriebene Worte können aufwecken, ändern und Brücken bringen. Viel muss sich noch ändern. Möge es bald geschehen.

Die Spur, die nach dem Lesen des Buches bleibt, spüre ich sogar auf der einer Lesung von Abbas Khider.

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Jene Gedanken schießen auch auf der Buchmesse durch meinen Kopf. Ja, bei sehr vielen Verlagen gibt es Bücher zur Flüchtlingsthematik, viel wird gesprochen, gehandelt, geplant.

Aber…

wer denkt je an die Seelen der Flüchtlinge und wie kaputt ihre Körper gehen? Wer denkt an das Leid von Flucht und hier anzugekommen, neue Schranken vorgesetzt zu bekommen? Wer denkt an die vielen Flüchtlinge und das in ihrem Schmerz zahlreich noch Steine draufgesetzt werden? Wer weiß darum, dass ihre Seelen zerfallen, wie hauchdünnes Glas? Wer denkt daran, was geschieht, wenn ein Fliehender, eine Fliehende, eine ganze Familie zurück in die Heimat voller Not und fallenden Bomben muss/müssen? Wer denkt an das Trauma von Flucht, Verlust und Heimatlosigkeit

Bücher.

Zu wenig Menschen.

Ich bin absolut gegen Gewalt, aber all diese Bücher, Diskussionen sollten aufweckende literarische Ohrfeigen sein, die Gutes, Menschlichkeit und die Sehnsucht nach etwas Normalität so vieler Menschen stillen.
Gleich nach dem Einfügen des Beitrages, gehe ich mit ein paar Freunden hier in Leipzig tanzen und mir fällt noch ein Buch ein.

Norbert Kron. Amichai Shalev. Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen.

Viel schrieb ich über das Buch. Es zeigt die Offenheit, aber auch die Möglichkeiten Steine und Schranken fortzunehmen. Es bringt ein Lachen, wo viele verloren gingen und einfach Hoffnung. Meine Gedanken dazu im Link oben.

Michael Köhlmeier | Das Mädchen mit dem Fingerhut | Carl Hanser Verlag GmbH & Co | 1.Februar 2016 | gebunden | 144 Seiten | 18.90 € | 978-3446250550

Abbas Khider | Ohrfeige | Carl Hanser Verlag GmbH & Co. | 1. Februar 2016 |gebunden | 224 Seiten | 19.90 € | ISBN: 978-3446250543

Haruki Murakami. Dussmann und der Blick auf Bücher. 

Gerade gehe ich durch die Tür, laufe etwas hin und her. Genau 6 Tage ist es her seit ich hier war und es verlangt in mir nach neuen Büchern. Ich will nicht danach suchen, sondern finden. Hier kann ich es. Ich bin in der besten Buchhandlung der Welt, wie ich finde. Dussmann Das Kulturkaufhaus hat nicht nur den schönsten Buchbereich, die meisten Bücher, die schönste Auswahl an guter Literatur, die beste Beratung und die beste Buchhändlerin, sondern auch ganz viel von Haruki Murakami.

 Ich bin öfters dort, gehe genussvoll durch die Regale. Immer wieder ein kleiner Kurzurlaub. Durchatmen. Ab und zu schiebe ich ein Buch zurecht. Besucher sind oft nicht achtsam. Sie berühren, greifen, heben ein Buch hoch, lesen die Rückseite und legen es nicht ordentlich zurück, obwohl jedes Buch doch ein Schatz ist, das genauso einen schönen Raum, eine Ordnung verdient, wie jeder und alles auf der Welt. Zusätzlich erspart es jeder/jedem Buchhändler_in einfach Arbeit. Jede Achtsamkeit schenkt Zeit und sei es etwas Zeit zum Träumen oder Lesen.

Ich genieße es gerade nachzudenken, einfach an diesem Ort zu sein. Oft duftet es nach frischen Büchern, eine Neuentdeckung lacht mich an und ein David Bowie-Bereich ist auch nicht weit entfernt. Unendlich viele Bücher, wundervolle Schreibsachen und im Café gibt es eines der besten Earl Greys überhaupt.

Herzlachen.

Stets bleibe ich bei den Fächern von Murakami stehen. Manchmal berühre ich ein Buch, aber nur zaghaft damit es keine Spuren davon trägt und mit dem schönen Herzklopfen kaufe ich dann meistens einige Bücher. Nicht immer Murakami. Diesmal ist es W.G Sebald „Austerlitz“

Auch die Kassiererin ist sehr nett. Ein kurzer Plausch ergibt sich. Nach dem Zahlen, gehe ich noch einmal zu den vorderen Büchertischen.

Seit vielen Jahren haben sie ein System. Eine perfekte Bücherordnung. Manchmal gerät diese etwas aus dem Takt. Ich bemerke dies. Es ist als würde jemand für eine Zeit fehlen. Fehlende Hände, die allem einen Zauber geben. Nie ist es dann unordentlich, aber anders. Wie eine gerade Linie, die etwas kippt. Nicht heute. Alles hat das schönste System für Bücher, das ich kenne. Etwas später setze ich mich auf meinen neuen Lieblingsplatz und schaue in zwei Murakami Bücher, die ich kurz aus dem Regal nahm. Meine Exemplare habe ich natürlich gerade nicht dabei. Die Abendsonne dringt durch die Scheiben von Dussmann, kitzelt die Seiten und mich. Ich denke an Haruki Murakamis „Unheimliche Bibliothek“ und den Schafsmann.

Haruki Murakami. Die unheimliche Bibliothek.

Eine etwas düstere Geschichte und doch so wundervoll. Der Protagonist ist ein Junge, der von seinen Erlebnissen in der Stadtbibliothek erzählt. Am Anfang ist alles normal. Er betritt die Bibliothek mit seinen nagelneuen Lederschuhen. Bücher werden zurückgegeben und alles hat, wie ich gerade schrieb eine Ordnung.

„Ich hüte die Bücher wie ein Schäfer die Schafe“ S.1

Nach diesem Satz war ich schon wieder vertieft in Murakami`s Welt und seine wunderbare Art zu schreiben, verliebt.Immer tiefer gelangt der Junge auf der Suche nach einem Buch in die Bibliothek. Das diese sogar einen Keller hat, wusste er noch nicht, obwohl er unzählige Male dort war. Doch es geschieht etwas. Er wird gefangen genommen und soll 3 Bücher auswendig lernen. Erschrocken, ängstlich ist er an diesem düsteren Ort. Schnell kommt auch eine so bekannte und geliebte Figur von Murakami´s Büchern hinzu-Der Schafsmann. Es mag dunkel in dieser Geschichte zugehen und diese kurzweilige Geschichte wirft Fragen auf, aber ein Wiedersehen beim Lesen mit dem Schafsmann ist wundervoll. Hinzu kommt ein stummes Mädchen, welches gleich ein wenig verzaubernd wirkt. Sie hat eine ganz besondere Art zu sprechen. In den Zeilen steckt eindeutig Murakami, skurril, die Realität verschwimmt und selbst das Unfassbare, so Ungewöhnliche wird selbstverständlich, wenn man Murakami-Leserin ist, wie ich.

Haruki Murakami. Naokos Lächeln.

„Naokos Lächeln“ halte ich auch in den Händen. Wenn ich ein neues Exemplar benötige, würde ich es nie woanders kaufen, als bei Dussmann. Immer, wenn ich es wieder einmal lese, finde ich etwas Neues darin. Einen geschriebenen Augenblick von Murakami, der mich dann mehr gefangen nimmt als vorher. Diesmal ist es der Moment als Naoko und Turo Watanabe sich näher kommen, aber zuvor weint Naoko bitterlich, um ihren besten Freund. Den größten Schmerz empfinden wir aus Trauer, wenn wir einmal loslassen können, aus der oft eingehaltenen Form fallen dürfen. Irgendwie befreit es. Das Buch ist das Buch meines Lebens, alles stimmt darin. Von dem Verlust bis zu dem unvergessenen Lachen., das jemanden in der Realität gehört. Ich denke für jeden Menschen gibt es ein passendes Buch. Ein Buch, das auf merkwürdige Weise einen großen Teil des eigenen Lebens in sich trägt. Egal, wo ich dieses Buch sehe, mache ich fast Luftsprünge, könnte tanzen. In Herzen passen eben nicht nur besondere Menschen, eine intelligente, belesene Frau mit einem Lächeln, wie aus einem Buch oder ein Haustier, sondern eben auch Bücher. Naokos Lächeln bewohnt hinter meiner Brust einen sehr geräumigen, luftigen Raum.

Minuten später laufe ich noch einmal durch das ganze Haus. Schön. Ich lege die Bücher zurück. Ganz ordentlich wo sie waren und poste dann diesen Beitrag. Ein traumhafter Nachmittag, dessen Wege durch Bücher gingen und ein Lächeln bewahren. Was kann es Besseres als die Buchwelt geben? Nichts, denke ich.

Danke an das Kulturkaufhaus Dussmann.

Haruki Murakami.Die unheimliche Bibliothek. DuMont Buchverlag. 29 November 2013. 64 Seiten. 14.99 €

Eine Woche mit Haruki Murakami. Naokos Lächeln.

Eine Woche nur mit Büchern von Haruki Murakami in Berlin. Was werde ich denken, erleben, sehen? Welche Augenblicke werden unvergesslich sein? Ich werde alles notieren und dann hier aufschreiben. Sicher auch einmal zwischendurch.

Erst neulich wurde ich gefragt, wer die Frau sei, die wirklich das unvergessliche Lächeln, wie in Naokos Lächeln beschrieben, hat und aus Berlin ist. Ich erwähnte sie bei meinen Rezensionen zu Murakami. Eine Antwort habe ich nicht gegeben. Irgendwo zwischen den Zeilen steht unerkennbar der Name. Denn ein Lachen, dass man nach Jahren noch liebt, gehört ins Herz nicht an die Öffentlichkeit.

Es geht viel mehr um Murakami. Jedes Buch von ihm beeindruckte mich. Niemand schreibt besser als er, denke ich immer, wenn ich ihn wieder und wieder lese. Aber auch dies ist Geschmackssache. 

Gerade höre ich ein Lied. Es füllt die Zimmer. Ein Lied, das mehr als nur gesungene Strophen hat. Es ist jener Song, der mich an mein Lieblingsbuch erinnert. „Naokos Lächeln“ von Haruki Murakami-Kein Buch ist so tief in meinem Herzen, wie dieses. Kein Buch bringt so viel schöne, auch ganz persönliche Erinnerungen. Jedes Jahr lese ich es ca. 2- 3 Mal. Meine eigene Tradition. Nun gerade beginne ich wieder und tauche ein in die Welten von Haruki Murakami…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lena Andersson. Widerrechtliche Inbesitznahme

„Liebe ist die stärkste Macht der Welt, und doch ist sie die demütigste, die man sich vorstellen kann.“ 

(Mahatma Gandhi) 

„Widerrechtliche Inbesitznahme“ Der Titel passt. Denn die Liebe kommt ohne zu Fragen, nimmt uns in Besitz, egal ob wir gemeinsam lieben oder es nur einseitig ist. Jede Seite wird in Besitz genommen. Ungewollt. Ungefragt. 
In dem Roman von Lena Andersson geht es um eine junge Frau Esther Nilson, Dichterin und Essayistin. Sie ist 31 Jahre alt, sieht die Welt ganz genau, in unzähligen Details. Schon am Anfang des Buches wird deutlich, wie tief ihre Gedanken gehen und wie viel unterschiedliche Wege sie nehmen. 
Ich bin von der ersten Zeil an tief in dem Buch. Lena Andersson schreibt anziehend, alles verschwindet und jeder Satz von ihr wollte dann von mir mit vollen Genuss gelesen werden. 

Esther bekommt den Auftrag über den Künster Hugo Rask zu sprechen. Bei dem Vortrag ist dann auch der Künstler anwesend. Hugo Rask übt sofort eine Anziehung auf Esther aus. Selbst Tage später ist er präsent in ihren Leben. Ihre bestehende Beziehung zu einem Mann bekommt dadurch neue Züge. Überall sind harte Ecken und fehlende Dinge. Beide haben sich auseinandergelebt. Beim Lesen spüre ich beide Seiten sehr. Esther, die Verliebte, die Hugo Rask noch gar nicht kennt und den Mann, der die Veränderung bemerkt, hofft und doch verlieren wird. Nur eine geringe Zeit später trifft Esther, Hugo Rask wieder. Sie macht ein Interview für eine Zeitung. Allein der philosophische Austausch zwischen ihnen ist einzigartig. Es geht um verschiedene Sichtweisen, ob man Taten nach ihren Konsequenzen oder Prinzipien bewerte, dann die Demokratie und Kunst, die besser eine revolutionäre Kraft besitzen sollte. Es sind Themen fern jeglicher Oberflächlichkeit. Immer wieder gibt es in dem Buch sehr philosophische Auseinandersetzung auch zur Liebe, den Gefühlen einer Zwischenmenschlichkeit aber genauso zu politischen Themen, wie den Taliban, Terroristen. Diese Gespräche zu lesen, bringt mich öfters dazu mich auch noch einmal mit dem ein oder anderen Thema zu beschäftigen, anders auseinanderzusetzen und neue Sichtweisen anzunehmen. Einfach auch neue Gedanken zu erfassen, die ich vorher nicht angerührt habe. Das Buch ist ein reines Gedankenlabyrinth und ich liebe es. Als ich es lese, erwähne ich es ständig. Nichts ist schöner als die Leidenschaft des Lesens und sich in ein Buch zu verlieben. Es ist so perfekt. In einer Nacht beschließe ich es auszulesen und dann alles auf mich wirken zu lassen. Am Ende schlägt mein Herz laut. Ich bin dankbar für so ein großartiges Buch. Vor mir die Spur des Buches-Ein Berg aus Gedanken.

Durch das Schreiben wird er zerfallen. 

  
Esther und Hugo Rask kommen sich näher und verbringen drei Nächte miteinander. Doch es ist klar, das Hugo die Freiheit liebt und gewiss, dass er nicht nur eine Frau hat. Hugo Rask ist mir wesentlich sympathischer als Esther. Dennoch denke ich, dass viele sie mögen, verstehen werden, ja sogar mit ihr leiden werden. Kurzzeitig tat ich das auch. Aber ihre Blindheit aus Liebe kommt an einen Punkt, wo sie immer wieder Grenzen überschreitet. Selbst ihre Freundinnen (in dem Buch immer von Esther Freundinnenchor genannt) können ihr nicht helfen. Erst waren es kleine Fehler, jene Fettnäpfchen, die wir alle aus einem Gefühl einmal übertreten, die Esther begeht. Aber es vergehen Monate fern von Hugo Rask, aber sie hofft immer noch sobald sie ihn sieht, folgt ihm auch zweimal, obwohl er klare unmissverständliche Zeichen setzt, dass er weniger will und gerade sie nicht die Auserwählte ist, liegt kommt bei ihr nicht an. Esther ist nur ein Jahr jünger als ich, aber dennoch wirkt sie mit der Liebe ganz klein, viel zu jung im Handeln. Es hat etwas Wahnsinniges, was Esther tut und denkt. Leider. Die Liebe zu Hugo Rask hat sie in Besitz genommen. Sie beeinflusst ihr Leben und beherrscht ihre Gedanken. An einigen Stellen habe ich fast schon Mitleid. Denn wie mit etwas wie der Liebe umgehen, wenn es doch kein Heilmittel und kein passendes Rezept gibt? Nahezu unmöglich.

“ Wir streben die Liebe an, um zu spüren, dass jemand uns sieht.“ S. 53


Der Großteil der Menschen lebt davon gesehen zu werden, gar geliebt zu werden und einen Partner an der Seite zu haben. Esther will unbedingt ein Leben mit Hugo Rask. Sie ahnt, dass es eine andere gibt, spürt Stiche, wenn sie abgewiesen wird. Doch immer wieder ist in ihren Worten und Gedanken mit ihm zusammensein zu wollen. Das sie ihre Liebe damit vertreibt, sieht sie nicht. Hugo Rask nimmt Besitz von ihr ohne dass er dies wollte. Sie hängt an einer Leine und schneidet sie leider nicht durch bzw. kann sie es nicht, da sie sich selbst drangehängt hat. Eine lange Zeit geht dies so. Esther muss tief fallen bis sie versteht, dass es keinen Sinn hat. Immer wie
Für mich ist das Buch eines der Besten, die ich las. Es ist so gehaltvoll, so voller Philosophie und mit dem Muss von Liebe und der Freiheit auf der anderen Seite. Ich bevorzuge die Freiheit. Menschen, die mit einem forderndem Schild vor mir stehen, bringen mich dazu weit fort zu laufen. So wie Hugo Rask. 

Liebe darf uns nicht blind und abhängig von einer Person machen. Esther Gerät in einen Strudel aus Schmerz und jedes Mal kommt ein neues Brett, das Hugo Rask ihr unbewusst vor den Kopf schlägt und mit jeden Mal, mag ich diesen Künstler. Er lebt und liebt einfach frei, ist kreativ. Die Liebe macht ihn nicht zu einer Marionette an unzähligen Schnüren. Jedes Gefühl muss atmen können. Drängen, fordern führt zu Zurückweisungen. Was sichtbar da ist, wird oft uninteressant. 
Das Schlimmste was es gibt sind Grenzüberschreitungen und gleichzeitig aber auch der Schmerz einer unerfüllten Liebe.
Ausnahmslos jeder wird sich in diesem Buch verstanden fühlen, oft anders denken, einfach die eignen Gedanken haben. Das Buch lässt Erinnerungen hochkommen. An vielen Stellen reflektierte ich, lächelte und weinte ganz kurz. Nichts bewirkt mehr als die Liebe. 
Wenn diese nicht gelingt, zu sehr nimmt, Schmerz bringt ist auch gut fortzulaufen, Türen zu schließen oder wie Esther einen Marathon zu laufen. 
Lena Andersson hat eine Auszeichnung für des Buch erhalten. Absolut zurecht. Sie schreibt mit einer goldenen Zunge und Tasten oder Stiften aus Diamanten. Ihre Zeilen sind wie eine Umarmung, die jeder haben möchte, der gern liest und in Bücher so gern verschwindet. 
„Widerrechtliche Inbesitznahme“ ist ein außergewöhnliches Buch, das so wundervoll ist, dass die tollen so unterschiedlichen Spuren davon bleiben. Meisterhaft.
Lena Andersson | Widerrechtliche Inbesitznahme | Luchterhand Literaturverlag München | 220 Seiten | 18.99 € | ISBN: 978-3-630-87469-2

Norbert Kron, Amichai Shalev. Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen.

„Die einzige Pflicht, die wir gegenüber der Geschichte haben, ist , sie umzuschreiben.“ Oscar Wilde

Ich denke an diesen Spruch als ich das Buch erhalte und lese. Zuerst entstanden nur ein paar Zeilen für die Rezension.
Wie und was schreibe ich über ein Buch, das so viel Toleranz, Freiheit und Offenheit in sich trägt? Wie schreibe ich über Werte, die aktuell an zu vielen Stellen Lücken aufweisen? 

Ich wusste es nicht sofort. 
Eine Gratwanderung, die in der angemessenen Verarbeitung der Vergangenheit zu einem großen Maß an Leichtigkeit führen kann. Genau auf dieser Grenze wandelt das Buch. Es hat alles was ich einmal kompakt lesen wollte. Geschichte, die Verarbeitung des Holocaust, Freundschaft, Liebe, Akzeptanz, ein Austausch verschiedener Menschen, Länder, die von allen Seiten beleuchtet werden und Missverständnisse, die durch Zeilen aus dem Weg geräumt werden. Einfach auch Wege, die in der Gegenwart anders, sogar neu, aber dennoch nicht ohne das Vergessen der Vergangenheit begangen werden. 

Also unzählige Gedanken und ich sitze vor meinem Schreibtisch, schreibe einfach drauf los. Es geht nicht darum die besten Zeilen für dieses Buch zu finden, sondern darüber zu erzählen. „Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen“ bedeutet mir sehr, sehr viel. Es ist eine kleine Bibliothek vom Leben, Unterschieden, Gedanken all das eingefangen von unterschiedlichen Autoren. 

  
Ich freue mich als Gedankenlabyrintherin Euch mit zu nehmen…Auf in die Geschichte, auf nach Israel und Berlin. 
Es ist an einem Montagmorgen in Berlin als ich das Buch in der Post habe. Die Stadt entwickelt gerade ihren Alltagslärm und der typische Duft strömt durch das leicht geöffnete Fenster. Ich beginne zu lesen. „Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen“ als ich diesen Titel das erste Mal höre, muss ich sofort an ein Video auf Youtube denken. Ein Holocaustüberlebender tanzt mit seinen Verwandten vor den Toren von Auschwitz zu „I will survive“ 

Das Cover des Buches ist sehr bunt und einladend. Es sprüht förmlich vor Energie. Darauf sind Berlin und Israel mit tanzenden Menschen zu sehen. 
>>Sag heute noch jemanden, dass du ihn liebst<< „Begegnungen im Hier und Jetzt“ Die erste hervorgehobene Unterschrift bei der Inhaltsangabe. 

„Warum eigentlich nicht?“Ich nutze  Facebook und teile das Buch und diesen Satz. Mehrmals wird es geliket, Dialoge bilden sich über und Mails kommen dazu. Es geht um das Aussprechen eines tiefen Gefühls, aber auch die Verarbeitung des Holocaust. Kaum begonnen bewegt das Buch also schon. Erstaunlich. 

Ich sitze längst in der U-Bahn zur Arbeit als ich das Vorwort der beiden Herausgeber Norbert Kron und Amichai Shalev lese und ein Lächeln huscht über meine Lippen. 

>>>“Immer sind es die Schicksale einzelner Menschen, die die faszinierenden Geschichten erzählen, Geschichten, die sich in Büchern oft wie erfunden anhören. Wie diese zum Beispiel, die sich vor ein paar Jahren ereignete. Sie handelt von einem Mann, der zu einem der größten Stars auf Youtube avancierte, zu einer Art Popstar, der mit seinem Tanz Millionen von Usern begeisterte und verstörte, und das im Alter von 90 Jahren. Andolek Kohn war nämlich nach Auschwitz, Theresienstadt und zu anderen anderen Konzentrationslager gefahren, um dort vor den Toren zu Gloria Gaynours weltberühmten Dancefloor „I will survive“ zu tanzen, zusammen mit seiner Familie…“<<<
Genau das hatte ich vor dem Aufschlagen gedacht. War es falsch nun darüber zu schmunzeln?

 Ist tanzen zur Verarbeitung genau richtig oder ein Schritt zu weit?

Bevor ich diesem Gedankenlabyrinth folge, lese ich weiter. Jede Geschichte ist anders. Es sind jene Geschichten, die erinnern, berichten und jene, die Fragen stellen, Antworten schenken und jene die einfach das pure Leben sind. Jene, die provozieren, zum Schmunzeln bringen und unzählige Gedanken hinterlassen. Es sind jene Geschichten über die Verarbeitung und den Umgang in der Gegenwart mit dem Holocaust. 
Die Freundschaft zwischen Deutschland und Israel existiert nun seit 50 Jahren. In der Zeit ging vieles voran, aber der Nahostkonflikt ist aktuell. 
Die Geschichten prägen sich ein. Ich lese das Buch schnell durch. Überall nehme ich es mit. Gedanken dazu fliegen dabei durch gewohnte Straßen und Räume. Mehrmals las ich die Geschichte von Sarah Stricker „Der neue Deutsche“ Vielleicht, weil sie zeigt, wie tief der Holocaust in manchen von uns noch verankert ist. Eine Geschichte über Maya, eine junge Frau, die in Tel Aviv kellnert und am liebsten die große Liebe finden würde, aber vorher hätte sie gern eine neue Nase, da ihre unschön ist.

Irgendwann kommt ein Deutscher in ihre Bar und bemüht sich um sie. Sie treffen sich, reden, kommen sich näher. Doch nichts ist mit Leichtigkeit untermalt, sondern der Holocaust ist sehr präsent. Fragen tauchen auf und irgendwie bei dem Deutschen auch ein Schuldseinsgefühl. Es scheint fast als steigere er sich dort hinein. Bis er merkt das Maya dies auch mit Humor sehen kann. Doch ihm passiert mit Worten das, was die Grenzen des Humors und des einfacher Sehens einer gnadenlosen Vergangenheit gänzlich überschreitet. 
„Maybe the Holocaust did also something good“
Selbst als ich das las, stockte ich. Das ist zu viel. Er versucht es zu erklären, dass der Holocaust gut war. Gut, sie hätten sich ja dadurch kennengelernt. Zwei Sätze, die zeigen, das Gleichgewicht zwischen Erinnerung und einem lockeren Umgang hat er nicht verstanden. Am Ende ist Maya sehr getroffen und geht leider mit immer noch unoperierter Nase. Aber die Geschichte zeigt, dass es auch in dem Umgang mit den Folgen des Nationalsozialismus und der langen Historie der Judenverfolgung zwar einen guten Umgang geben sollte, der nicht ständig schwer wie ein Findling sein sollte, aber eben auch nicht leicht, wie eine Feder. 

Es sollte ein ausgewogenes Maß aus beiden besitzen. 

  
Auch Amichai Shalev und Norbert Kron schrieben jeweils eine Geschichte in diesem Buch. 
Amichai Shalev’s Geschichte „Wurst mit Colageschmack“ brachte mich mehrmals zum Lachen. Die hängenden Gummipuppen im Hotelzimmer, die Wurst mit Colageschmack und all das so trocken im positiven Sinn erzählt. Ich stelle mir gerade schon wieder die Frage, wo dieses Hotel zu finden ist. Nicht wegen der Gummipuppen, aber wegen der Themenzimmer und äußerst merkwürdigen Wurst. 

Nur das ist nicht alles. Endlich wird einmal intensiv über das Wort „Nazi“ nachgedacht.


„…Man kann es an der merkwürdigen Metamorphose sehen, die das Wort >>Nazi<< in der hebräischen Sprache durchlaufen hat. Am Anfang war es ausschließlich den Nazis vorbehalten- Hitler war ein Nazi, Eichmann war einer und die Deutschen waren Nazis. Alle Übrigen waren keine Nazis. Für sie gab es andere Worte.“ S.109
„So ging das Wort >>Nazi<< in der postmodernen Erfahrung auf Wanderschaft, begann sich selbst zu betrachten, um zu sehen, woraus sich seine Gewänder zusammensetzen, streifte eines ab, dann das zweite, zog neue Schuhe an, setzte eine Sonnenbrille auf, schüttelte den Staub historischen Konnotationen und den Moder der Gefühle ab…“ S.111

>>Nazi<< ein Begriff, der alltäglich wurde. Viel zu leichtfertig umher geworfen. Aber wo die Grenze ziehen? Die Bezeichnung Nazi als Schiedsrichter, heißt sehr genau, gewissenhaft. Dennoch für mich bleibt dieses Wort negativ. Es sind jene Menschen, die gnadenlose Unmenschlichkeit ausführten und einem Mann folgten, der sie nur als Instrumente seine Ideologie durchzusetzen, benutzte. 
Als ich kurz vor dem Ende des Buches bin, erscheint auch Norbert Kron’s Geschichte. Er selbst ist recht oft in Israel (siehe Bilder) „One State Solution“ Eine Zukunftsversion, die erzählt, wie es in ein paar Jahren sein könnte. Die Technik ausgereifter und doch selbst viele Jahre später, bleiben die Konflikte. Nichts hat sich beruhigt. 

Teilweise klingt es wie ein Bericht im Jetzt. Ein Anschlag, eine Explosion, Schüsse fallen. Norbert Kron schafft durch seine Sätze, Einblicke in das Unfassbare, was wir nie erleben möchten. 

Doch eine Frau, die mitten im Geschehen ist, handelt genau richtig und rettet etwas, das so wichtig ist. Ein Gedächtnis, Erinnerungen. Sie retten einen Menschen. Menschen, die etwas bewegen, erinnern, über alles erzählen, werden uns in allen Epochen begleiten. Mehr möchte ich zu dieser großartigen Geschichte, die mich zusätzlich nachhaltig beschäftigte, nicht sagen. 
Das Buch macht gerade durch die so unterschiedlichen Geschichten deutlich, dass eine vergangene Spur aus überdimensionaler Unmenschlichkeit immer bleibt, nicht vergessen wird, weil sie auch nicht vergessen werden sollte. Wer doch vergisst, versteht nicht. 
Aber genau diese Geschichten in dem Buch zeigen gleichzeitig, dass die Zeit immer eine Wandlung bringt und es Schritte zwischen zwei Ländern gibt, die Grenzen, Hemmungen, Bedenken verwerfen und mehr zwischenmenschliche Offenheit auch für Länder geschaffen werden können. Es ist gut keine Predigten oder ewig lange wissenschaftliche Texte zu verfassen, die nur noch mehr Fragen aufwerfen oder dazu führen, das viele den Kopf schütteln, sich dagegen stellen. Um Geschichte und Freundschaft zwischen zwei Ländern, Änderung zu vermitteln, braucht es Geschichten aus dem Leben und keinen drohenden Zeigefinger. Es braucht Humor, auch Ernst und pures Leben mit allen Facetten aus hell bis dunkel. Leben in das wir hineinschauen können, nah dran sind und selbst Unwissende endlich verstehen, an mehr Offenheit gelangen.
Selbst ich war etwas skeptisch. Kann ich nach Israel reisen? Bin ich dann nicht in Gefahr? Typische Fragen und doch längst überholt. Ich merke wie beim Lesen meine letzten Zweifel verschwinden. Einmal am Strand von Tel Aviv lang spazieren, etwas essen, mit Einheimischen, einem guten Freund plaudern, tanzen und ein anderes Mal Stille ganz allein in einem Land genießen, was mir zuerst etwas fremd war. 
Die Zeiger der Uhren drehen sich unaufhaltsam weiter. Freundschaften, Lieben bilden sich, Freiheit wird gelebt, Vorurteile zerschlagen und ein Land in seiner ganzen Schönheit gesehen. 

Die Grausamkeit des Holocausts sollte nie vergessen werden, aber es ist auch gut, wenn sie neue Wege des Nicht- Vergessens findet. Am Ende des Buches denke ich an Israel, sehe Fotos davon durch und innerlich sind die Koffer längst für Israel gepackt.
Norbert Kron und Amichai Shalev ist mit dem Buch ein großer Sprung zu mehr gegenseitigen Verständnis, mehr Toleranz gelungen und das etwas mehr Leichtigkeit eben nicht bedeutet zu vergessen. 
Durch das Lesen des Buches bin ich auch in meiner Arbeit gegen Rechtsextremismus und gegen das Vergessen ein Stück weiter. Ja, ich darf auch einmal schmunzeln, nicht bierernst sein, wenn es um ein so wichtiges Thema geht. Vergessen oder runterspielen würde ich es nie. Aber wir müssen aufhören mit Panzern zu versuchen, nicht vergessen zu wollen. Schuld ist nach vielen Jahren eine fast unnötige Frage, sondern einzig sinnvoll ist die Frage: Wie vermeiden wir je wieder Schuld zu haben und wie bekämpfen wir Hass? 

Zwischen Israel und Deutschland gibt es eine Jahrzehnte lange Freundschaft. Wir sollten daran arbeiten, dass dies so bleibt und wir nicht zu der Unmenschlichkeit aus der Vergangenheit zurückkehren. Der Mensch sollte vorwärts laufen und nicht die Fehler von einst wiederholen. 
Was für ein Buch, saust es durch meinen Kopf?!

Es gibt so viel und mir eine wundervolle Lesezeit mit einem Gedankenlabyrinth, das so bereichernde, unterschiedliche Wege hatte, die schöne Spuren hinterlassen haben. 
Ich möchte Luftsprünge machen. Das ist bewegende Literatur, das ist der Anstoß, der richtige Weg zu verändern. Das ist Literatur, deren Zähne fest zubeißen, wach rütteln und gleichzeitig wie ein Biss sind, der endlich neue Bahnen schafft.
Noch einmal blicke ich das Cover an. Es sollte Partys geben bei denen wir tanzen, reden, uns austauschen bis in den Morgen und tanzend rufen „Wir vergessen nie“
Sicher eine gute Brücke gegen Missverständnisse und für mehr Freiheit. Das Buch ist perfekt für viele Brückenfundamente.
„Nichts bewegt mehr als die Kraft der Sprache und das Schreiben.“
„…wo man die Waffen statt den 

Menschen sprechen lässt muss

Man ihnen das Wort nehmen

Nichts ist so entwaffnend wie

Deine Bücher keiner schiesst der

Sie liest er küsst“ 

(S. 312, Auszug aus Ode an Zeruya von Albert Ostermeier)

Und nun am Ende der Rezension? Wir leben, schreiben, reden, lesen und die Erkenntnis-Ja- es ist genau richtig zu tanzen“ 

„Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen“

Ein besonderer Dank geht an Norbert Kron. 

Norbert Kron, Amichai Shalev | Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen | S. Fischer Verlag GmbH | Frankfurt am Main 2015 | 316 Seiten | 18.99 € | ISBN: 978-3-10-002391-9

(C)Bilder Norbert Kron, 

Sandra Höhne

Deon Meyer. 13 Stunden

Mit „13 Stunden“ von Deon Meyer fing alles an. Ich zweifelte erst etwas nach dem ich diesen Buchtipp erhalten hatte. Bis auf Henning Mankell lese ich aus dem Genre Krimis kaum etwas oder scheitere an der Flachheit des Inhaltes oder fehlenden Sprachgewalt. Nun gab ich Deon Meyer eine Chance. Es geschah das, was ich nicht gedacht hätte. Ab der ersten Zeile rannte ich mit dem Opfer einer jungen Frau, die gejagt wird mit und die Spannung kribbelte wie ein angenehmer Kältehauch bei dauerhafter Hitze. 

Es gibt einen Wechsel zwischen dem Opfer, der Tat und dem Protagonisten. Der Protagonist ist Bennie Griessel. Ein eigenartiger Inspektor, der ein Alkoholproblem hatte, Glück ist nicht so ganz seine Sache. Er hat Probleme mit seiner Frau, ist unbequem, trotzdem tiefsinnig. Seit Jahren ist er im Geschäft und damit besser als die Neulinge, die nachdem das Opfer getötet wurde, auch zum Tatort kommen. Ein merkwürdig zusammengewürfeltes Team bietet sich dann. Etwas auf das Griessel keine Lust hat. 

Schauplatz des Romans ist Afrika. Rau ist es dort in Kapstadt und doch wieder schön. Auch hier immer ein Wechsel. Schönheit und Verbrechen, Gesellschaftskritik laufen nebeneinander. 

  

Deon Meyer verpackt alles zu einem perfekt gepackten Paket. Er gibt Einblicke in das Geschehen, das Leben der Menschen und die politische Lage dort und der immer noch vorhandene Rassenhass. Ich lerne das Land kennen, lese Landschaftsbeschreibungen, die neugierig machen, endlich nach Afrika zu fliegen, dann einen etwas skurillen Inspector, den wohl jeder genau deshalb lieben wird und diese unglaubliche Spannungskonstante. 

Der Krimi ist ein Sog. 

Bennie Griessel hat einen äußerst schlechten Tag erwischt. Erst der Mord einer jungen Frau, dann wird ein Toter in seinem Haus gefunden. Am Abend hat er eine Verabredung mit seiner Frau. Alles bildet Knoten und ich verfalle Meyers Schreibweise, die mich oft an Mankell erinnert. So gut, so sprachgewaltig. Zeilen, egal ob in einem Liebesroman oder Krimi müssen bildhaft und klug sein. So kann ich hineinspringen, mich darauf einlassen und in eine andere jeweils neue, unbekannte Welt fliehen. Die Zeit läuft. Es bleiben nur noch knapp 13 Stunden. 

Viel mehr möchte ich nicht verraten, da dies ein hochspannendes Erlebnis ist, das noch in mir ist, ich es weiter genieße und jeder seine Erfahrung in alles einzutauchen, selbst machen soll. Nur so viel sei gesagt Ich bin süchtig geworden. Die größte Freude daran ist, dass es mittlerweile eine Griessel-Reihe gibt, die Deutschland erobert. 
Mittlerweile habe ich fast alle Bände gelesen und freue mich weiter diese zu verfolgen. Es gibt sie also noch, jene Krimis, die mich fesseln und ich glaubte fast nach Mankell sei dies verloren gegangen. Ich kann nur bestätigen, was über Deon Meyer geschrieben und gesagt wird. Er ist wahrlich eines der weltbesten Krimiautoren. 

„13 Stunden“ von Deon Meyer ist ein perfekter Roman, um nun einmal in eine grandiose Krimireihe einzusteigen und sie immer weiter und weiter zu lesen.

Deon Meyer | 13 Stunden | Aufbau Verlag | Aufbau Taschenbuch | 17 Februar 2014 | 467 S. | 9,99 € | ISBN: 978-3746630496

Lydia Davis. Reise über die stille Seite-Stories

Ich bin in meiner Lieblingsbuchhandlung Dussmann in Berlin. Dort wird gerade umgebaut. Die gewohnte Stille, die gewohnten Wege sind fort, die Regale anders. Alles etwas enger. Öfters muss ich Platz machen oder jemand anderem ausweichen. Sonst war jeder Besuch für mich wie ein Kurzurlaub. Die Stille ist fort, wenn auch nur für eine gewisse Zeit. Doch es wird anders sein. 

Ich überlege, ob Stille auch manchmal Gewohnheit und derselbe Ort von Dingen sein kann? Ich denke schon. In diesem Gedankenmoment liegt ein Buch unten bei den Regalen vor mir. „Lydia Davis – Reise über die Stille Seite des Lebens“ Genau das ist es, was an Literatur passt. Ich nehme es mit und verlasse Dussmann recht schnell. Einfach in die U-Bahn steigen, schön in meiner unveränderten Leseecke sein, einen Tee trinken. In dem Buch stehen Kurzgeschichten und manche werden jetzt vielleicht schon vorschnell nein sagen, da sie eben solche kleinen Geschichten nicht mögen. Aber es lohnt sich. Linda Davis wird zurecht von allen hochgelobt. Diese Kurzgeschichten beschreiben das Leben. Ganz pur und schonungslos. Da ist die Frau, die verloren hat, weil es eine andere Frau gibt, die bei dem geliebten Mann einen wahren Platz hat. Es geht um Kinder und um Mäuse in Wänden, Frauen, die zu Zedernbäumen werden, Katzen im Gefängnis und Zorn, Unmut, Sex. Berührt hat mich die Story „Eine Naturkatastrophe“

„Wir bleiben jetzt den Großteil des Tages im Bett, unter schweren, sauren Decken; die Holzwände sind durch und durch nass; das Meer sickert durch durch die Ritzen der Fensterbänke und tröpfelt auf den Fußboden. Drei von uns sind zu unterschiedlichen Morgenstunden vor Tagesanbruch an Lungenentzündung und Bronchitis gestorben. Drei sind noch übrig, und alle sind wir schwach; wir schlafen nur noch oberflächlich, denken nur noch verworren, unterscheiden nicht mehr zwischen Licht und Dunkel, nehmen bloß noch Halbdunkel und Schatten wahr“

Lydia Davis schreibt so intensiv, dass selbst wenige Zeilen genügen, und ich bin metertief in der Geschichte. Ihre Sprache ist außergewöhnlich, mal poetisch, mal klangvoll, so vollendet geistreich und immer besonders. Ein Buch, welches lebensnah ist. 
  
So auch in „Der Spaziergang“ Zwei Menschen gehen nach einer Konferenz spazieren und Worte fließen, ein guter Austausch, aber eben jene Worte, und gemeinsame Gänge können dazu führen, sich nach dem Abschied nie wiederzusehen. 

Das Buch ist heiter und doch geht es auch um den Tod, Schmerz, der mal verständlich, mal als zu einfach gesehen wird. Dann gibt es in verschiedenen Zeilen zwischenmenschlicher Kälte und etwas weiter zärtliche Nähe. Es sind Seiten mit allem, was das Leben bietet. Viele Seiten, die ernste Themen haben. Vergewaltigung, Verlust, Verbrechen und tiefe Einblicke in die Psyche verschiedener Menschen und ihren Ereignissen, die messerscharf in ihr Leben eingeschnitten haben. 

Höhen und Tiefen festgehalten in Kurzgeschichten, die zum Nachdenken, aber gleichzeitig auch eine schöne Stille bringen, die wir zuerst woanders suchten.
Stille, welche immer nach Allem kommt, egal was auch geschieht. Aber gewiss kann sie auch ein Ort und eine liebgewonnene Gewohnheit sein. 

Ein unvergesslich gutes und unfassbar passendes Buch in jeder Zeit, in jedem Augenblick.

Lydia Davis | Reise über die stille Seite Stories | Frankfurt am Main Januar 2016 | Fischerverlag Taschenbuch | ISBN: 978-3-569-03319-5 | 10, 99 €